Proteste mit weiblichem Charme

Die meisten Frauen demonstrieren für Kinderechte.  Foto: Ruslan Krivobok_RIAN

Die meisten Frauen demonstrieren für Kinderechte. Foto: Ruslan Krivobok_RIAN

Auch nach den Präsidentschaftswahlen am 4. März gehen die Protestaktionen weiter. Dabei setzen sich immer mehr Frauen an die Spitze der Bewegung. Sie kämpfen gegen Missstände in der Gesellschaft.

Auch nach den Präsidentschaftswahlen vom 4. März 2012 planen die Anführer der neuen gesellschaftlichen Bewegungen ihre Meetings und Mahnwachen in der russischen Hauptstadt fortzusetzen. Organisatorinnen von Protestaktionen berichteten der russischen Wochenzeitung "Moskowskije Nowosti" über ihre Beweggründe, berufliche und familiäre Pflichten mit gesellschaftspolitischer Arbeit zu verknüpfen und sich für die Interessen von Tausenden von Menschen einzusetzen. Fachleute haben festgestellt, dass Frauen eine immer größere Rolle im sozialen Leben spielen. Im Gegensatz zu Männern seien sie in der Lage, ausgewogenere Entscheidungen zu treffen.

Die neuen Anführerinnen der Protestaktionen in Moskau blicken auf eine gemeinsame Geschichte zurück. Sie alle strebten nicht aktiv nach der Rolle von Oppositionellen. Vielmehr hat sie die Verletzung ihrer Rechte "aufgeweckt". Die  Tatenlosigkeit der Beamten wirkte als Katalysator.

 Umbenennung kommt nicht durch

"Ich habe niemals zuvor mit Beamten gekämpft", gibt die Dramaturgin Olga Sawina zu. Sie ist 47 Jahre alt, verfasst Drehbücher für Kinofilme und lebt allein. "Als ich erfuhr, dass die Behörden beschlossen hatten, die Metrostation in meinem Moskauer Wohnbezirk Bratejewo, auf deren Eröffnung wir schon fast 25 Jahre warten, von "Bratejewo" in "Alma-Atinskaja" umzubenennen, war mir klar, dass es an der Zeit war zu handeln", erklärt sie.

Nach Angaben von Frau Sawina hatten in ihrem Bezirk zuvor keinerlei öffentliche Anhörungen stattgefunden. Es hatte lediglich eine offizielle Mitteilung gegeben, dass der kasachische Botschafter Sautbek Turisbekow der Moskauer Stadtverwaltung den Vorschlag unterbreitet hatte, einer der Moskauer Metrostationen den Namen "Alma-Atinskaja" zu geben. Weshalb die Wahl der für die Namensgebung kommunaler Objekte zuständigen städtischen Kommission ausgerechnet auf die Station "Bratejewo" fiel, weiß niemand. Für Frau Sawina jedoch war klar, es war an der Zeit, auf die Straße zu gehen.

Sofort druckte sie Flugblätter und verteilte sie an Passanten: "An jenem Tag fanden die Wahlen zur Staatsduma statt. Ich erklärte den Bewohnern unseres Stadtbezirks, dass die hiesige Metrostation den Namen ‚Alma-Atinskaja’ tragen sollte und sammelte Unterschriften gegen diesen Beschluss der Behörden. Sogar Polizisten“, so Sawina stolz, „setzten ihre Namen auf die Liste um gegen die Umbenennung zu protestieren“.

Für gute Speisen im Kindergarten

Anna Narwatkina war schon immer eine Aktivistin, in der Schule, an der Universität und an ihrem Arbeitsplatz. "Allerdings hätte ich es nie für möglich gehalten, dass ich eine Kundgebung organisieren würde", gab die 27-jährige Anna zu, die als Programmiererin arbeitet und Mutter von zwei Söhnen ist. Sie war im achten Monat schwanger, als sie im Februar eine Mahnwache gegen den neuen Speiseplan in Moskauer Kindergärten organisierte. An dieser Protestaktion beteiligten sich damals Hunderte von Eltern.  

"Als ich meine Söhne nach den Weihnachtsferien zum Kindergarten brachte, bekam ich mit, was man ihnen zum Frühstück vorsetzte. Ein Schälchen Grießbrei, etwa viermal vier Zentimeter groß, mit einem Klecks Marmelade obendrauf. Dazu gab's vitaminisierten Kakao", erinnert sich Frau Narwatkina.

"Von den Erzieherinnen erfuhr ich, dass ab Januar 2012 ein neuer   

Speiseplan eingeführt worden war. Als ich mich im Internet kundig machen wollte, fand ich nicht nur den Speiseplan, sondern auch unzählige Beschwerden von betroffenen Eltern", berichtete sie weiter. In den Foren wurde beklagt, dass die Portionen verkleinert wurden und die Kinder nach den Mahlzeiten noch immer hungrig waren. Vielen der Kleinen werde es von dem neuen Essen, Halbfabrikate mit zugesetzten Vitaminen, sogar schlecht, Allergien und sonstige Störungen wurden beobachtet. "Mir wurde klar, dass es sich hier nicht nur um ein Problem in unserem Kindergarten handelte, sondern dass überall in Moskau ähnliche Zustände herrschten", fuhr Anna Nawartkina fort.

Die Briefe, die sie an die Moskauer Behörde für Bildung und Erziehung, an Bürgermeister Sobjanin, Ministerpräsident Putin und Präsident Medwedjew geschrieben hatte, blieben unbeantwortet. "Im Forum 'Mutterschaft' hatte ich geschrieben, ich sei bereit, mich an einem Meeting zu beteiligen", berichtete die Aktivistin. Viele meinten daraufhin, auch sie würden daran teilnehmen, allerdings übernahm niemand die Initiative und organisierte eine solche Versammlung. „Mir war klar, dass ich nichts zu verlieren hatte. Selbst wenn meine Kinder aus dem Kindergarten ausgeschlossen würden, wäre dies nicht schlimm. Schließlich bin ich zu Hause, habe noch Elternzeit und würde dann eben selbst auf sie aufpassen", erklärte Anna entschlossen.  

Zusammen mit zwei anderen Müttern meldete sie eine Mahnwache an. "Bei mir ging unentwegt das Telefon. Es riefen Mütter, Mitarbeiter von Kindergärten und auch Journalisten an. Mein Mann“, so Narwartkina erfreut, „unterstützte mich bei der Aktion. Ich war entschlossen zu kämpfen, da mir diese Frage, bei der es um die Gesundheit meiner Kinder ging, sehr wichtig war".  

Frauen protestieren mit

Der Psychologe Wladimir Latyschew hat beobachtet, dass überall in der Welt Frauen ihre Position in der Gesellschaft immer aktiver vertreten. "Obwohl Frauen emotionaler reagieren, können sie im Gegensatz zu Männern Entscheidungen treffen, die weniger aggressiv sind", erläutert Latyschew. Genau wie sie sich früher zum Führen eines Kraftfahrzeugs entschieden haben, greifen Frauen heute zu Protestaktionen als Waffe gegen Missstände in der Gesellschaft.

"Noch vor nicht allzu langer Zeit konnte man sich nur schwer vorstellen, dass so viele Vertreterinnen des schwachen Geschlechts das Ruder übernehmen würden", meint Alexander Oslon, Präsident der Stiftung "Öffentliche Meinung". Nach seiner Auffassung zeichnen sich Menschen in einer Zivilgesellschaft dadurch aus, dass sie nicht gleichgültig sind, viel kommunizieren, Aktivitäten entfalten und  die Initiative übernehmen. „Anlässe, die früher nicht als Grund für eine Protestaktion angesehen worden wären, sorgen nun dafür, dass sie auf die Straße gehen“, erläutert Oslon. 

Nach Ansicht Latyschews gibt es im Land eine Generation, die unter den Bedingungen einer größeren Freiheit herangewachsen ist. "Deshalb ist es nur natürlich, dass sich eine Zivilgesellschaft herausbildet, die es früher nicht gab. Und die Frauen nehmen darin eine aktive Rolle ein", meint der Psychologe abschließend.  

Die ungekürzte Fassung des Artikels erschien zuerst bei Moskowskije Nowosti.

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