Wollen das System verändern - wenigstens in Woronesch: Aleksander Boldyrjew, Wjatscheslaw Sawalin. Foto: Pavlina Martinu
„Psst! Ruhe! Seien Sie doch leise, ich verstehe ja gar nichts!“, raunt eine ältere Dame zwei Frauen zu, die sich hinter ihr lautstark unterhalten. Auf der Bühne im Zentrum Woroneschs, einer Fastmillionenstadt 500 Kilometer südlich von Moskau, wird gesprochen. „Wir wollen freie und faire Wahlen. Es muss endlich Schluss sein mit den Fälschungen“, fordert der junge Redner. Er ist so aufgeregt, wie es nur ein Schüler bei seinem ersten Referat sein kann.
Das Stocken und Stottern verunsichert den nicht sehr großen Zuhörerkreis. Ermutigend rufen ihm einige zu: „Keine Angst, sprich weiter, du hast völlig recht.“ Das war am 10. Dezember, auf der ersten Demonstration nach den Duma-Wahlen, doch auch noch am 4. Februar stockt und stottert es. „Ich schäme mich ein wenig, wenn ich einige Redner auf der Bühne sehe und ihnen zuhöre“, sagt eine Demonstrantin.
Das System verändern
„Ich will die Protestbewegung unterstützen, aber mir fällt es schwer, mich mit den Organisatoren zu identifizieren.“ Die Organisatoren treffen sich wöchentlich, um zu planen, wann und wo demonstriert wird, ob man Tee ausschenkt, ob eine Band spielt und welche Größe die Info-Flyer haben sollen. Auch die Rednerlisten werden abgesprochen.
Demo in Woronesch. Foto: v-shabunina
Die Ortsbeschreibungen für die Treffen klingen nach Versteckspiel: „In der Kolzowskaja Straße hinter dem Markt bei einer Garage, vor der ein Schrank steht.“ Für ein Büro fehlt das Geld. Auch die Flyer und den Tee, den die Verantwortlichen bei den Demons-trationen ausschenken, bezahlen sie selbst. Manchmal bekommen sie ein paar Rubel von den Zuhörern. „Hier ist niemand wegen Eigenwerbung, sondern weil wir das System in unserem Land verändern wollen“, sagt Aleksander Boldyrjew über seine Motivation. Das System? „Die Wahlen, die Korruption, die Parteienlandschaft und die politische Kultur.“
Boldyrjew hätten viele Woronescher gerne als Anführer der Proteste. Der 43-Jährige ist schon lange politisch aktiv - für die Oppositionsbewegung Solidarnost erledigt er die journalistische Aufarbeitung. Manchmal leitet er die Sitzungen, ein andermal setzt er sich auch ans Ende des Tisches. Wenn er spricht, steht er immer auf, das macht sonst keiner. Eine Hand stützt er auf den Tisch, die andere gestikuliert auf Brusthöhe. Bewegt spricht er über das Schicksal seines Landes. Bei der Planung und auch bei den Demonstrationen hält er sich jedoch im Hintergrund.
Ganz anders Wjatscheslaw Sawalin. Einen Tag nach der Duma-Wahl hat er seinen 18. Geburtstag gefeiert, er studiert PR und Design. Der 180 Zentimeter große, hagere Aktivist sitzt, die Ellenbogen aufgestützt, am Kopfende des Tisches. Die Rolle als Sitzungsleiter gefällt ihm. Als ob er sein Leben lang nichts anderes getan hätte, ruft er mit einem Nicken die Sprecher auf, Unruhe schnürt er ab, indem er in die Hände klatscht. „Ruhe, Genossen!“, ermahnt er jene, die alle ein gutes Stück älter sind als er.
Nach der Präsidentschaftswahl
Sawalin hofft, dass die Proteste erst der Anfang sind, dass die Menschen aufgerüttelt und politisch und gesellschaftlich aktiver werden. Die Behörden von Woronesch sehen das anders. Bisher haben sie alle Demonstrationen der Opposition problemlos genehmigt. Weiteren Kundgebungen nach der Präsidentschaftswahl stehen sie jedoch mit Skepsis gegenüber. An die Adresse der Organisatoren hieß es, dann sei alles entschieden, man brauche nicht mehr auf die Straße zu gehen.
Noch haben es ohnehin nur wenige Menschen in der Fastmillionenstadt zu den Kundgebungen geschafft. Am 4. Februar waren es ganze 200. Wie es nach dem 4. März sein wird, können wohl auch die Woronescher Behörden nicht voraussehen.
Heidi Beha ist Lektorin der Bosch Stiftung in Woronesch.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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