Russland erinnert sich an Tschernobyl und bietete Japan seine Hilfe an.
Das erste Mal in der Geschichte Japans wendete sich der Tenno am 15. August 1945, dem Tag der Kapitulation im Zweiten Weltkrieg, an sein Volk. Zum zweiten Mal geschah dies nach der Havarie im Atomkraftwerk Fukushima-1. Die Größenordnungen der Katastrophen sind vergleichbar.
Am 11. März 2011 geschah in Japan das größte Erdbeben in der Geschichte des Landes. Doch die daraus resultierende gigantische Flutwelle alleine hätte es trotz der verheerenden Zerstörung und der Vielzahl an Opfern wohl kaum in seinen Grundfesten erschüttern können. Erdbeben, Taifune und Tsunamis sind ein Teil der japanischen Kultur, Wirtschaft und Geschichte, ja ein untrennbarer Bestandteil des Alltags. Jeder japanische Schüler sitzt im Unterricht auf einem orangefarbenem Kissen, das sich im Falle eines Erdbebens leicht in eine Schutzhaube umwandeln lassen kann.
Das Land wurde in eine neue Realität katapultiert, als die zehn Meter hohe Tsunamiwelle über das Atomkraftwerk, das unmittelbar am Ufer des Stillen Ozeans steht, hereinbrach. Sie setzte die reguläre Elektrizitätsversorgung, wie auch die Dieselgeneratoren, die die Sicherheitskühlung des Reaktors gewährleisten sollten und die gerade einmal sechs Meter über dem Meeresniveau stationiert waren, außer Betrieb. Infolgedessen schmolzen in drei Reaktorblöcken die Kerne. Die Havarie wurde nach der Bewertungsskala der Internationalen Atomenergiebehörde in die Höchststufe 7 („katastrophaler Unfall“) eingeordnet. Die Emission radioaktiver Teilchen in die Atmosphäre, den Boden und das Wasser der nahegelegenen Küstenregion betrug 20 % des Verstrahlungsniveaus von Tschernobyl.
Wie wir die “friedliche Kernenergie” unter Lebensgefahr bändigen mussten
Das Desaster dabei besteht darin, dass sich das Ausmaß und die Auswirkungen der Krise mit jeder Messung und jeder Berechnung vergrößerten.
“Die Feinde werden dich verachten, wenn du liederlich aussiehst”, schrieb im 17. Jahrhundert Tsunetomo Yamamoto, Verfasser des Hagakure, eines Kodex für Samurai. Japaner bewerten den Rest der Welt bezüglich deren Reinlichkeit, gelinde gesagt, skeptisch. Leider hat Fukushima dieses Symbol nationaler Identität zutiefst untergraben. Fortwährend wird in den Massenmedien über radioaktive Verseuchung von Reis, Gemüse und Fisch berichtet. “Äußerste Sorgfalt, absolute Sauberkeit und vollkommene Sicherheit überall in Japan – das, worauf wir so sehr stolz waren und was wir so hoch geschätzt haben – ist dem Schmutz gewichen. Man kommt sich vor wie eine radioaktive Kakerlake“, vertraute sich mir mein japanischer Kollege wenige Wochen nach dem Reaktorunfall an.
Das verloren gegangene Gefühl der fast sakralen Sauberkeit hat offensichtlich die Vorwürfe gegenüber der Regierung nur noch mehr angeheizt. Die Opposition warf dem Kabinett des damaligen Ministerpräsidenten Naoto Kan eine vollkommen hilflose Antikrisenpolitik vor. Dabei musste sie nicht lange nach Argumenten suchen. Alleine der Entschluss, die havarierten Reaktoren mithilfe von Wasserwerfern der Polizei zu kühlen, spricht Bände. Vor einem schnellen Rücktritt wurde die Regierung nur durch die solidarische Mobilmachungsstimmung in der Bevölkerung gerettet. Nichtsdestotrotz war Kan Ende letzten Jahres gezwungen zurückzutreten, um ein Auseinanderbrechen seiner Demokratischen Partei zu verhindern. Doch die Liberaldemokratische Partei konnte die Situation nicht für sich nutzen, um die Macht zu ergreifen, die sie vor zweieinhalb Jahren abgeben musste. Die Konservativen, die über fünfzig Jahre die politische Bühne dominiert hatten, befinden sich in einer noch tieferen Krise, als die regierenden Demokraten. Die Handlungsfähigkeit der Regierung wirkt nahezu komatös und deshalb schließen die politischen Kräfte des Landes faule Kompromisse in einer Zeit, in der Japan eines vereinten Vorgehens bedarf. Der Energiehaushalt des Landes, der nahezu ohne fossile Brennstoffe auskommen muss, befindet sich momentan in einem bedauernswerten Zustand. Dieses Problem muss unverzüglich gelöst werden.
Die Havarie in Fukushima hat zwangsläufig zu einer Krise der gesamten Atomenergiepolitik geführt. Atomkraftwerke hatten den Bedarf an Elektroenergie zu dreißig Prozent gedeckt. Gegenwärtig jedoch sind nur noch zwei der 54 Reaktorblöcke in Betrieb, die anderen wurden zur Durchführung eines Stresstestes vorübergehend vom Netz genommen. Es ist nicht auszuschließen, dass bis April auch die restlichen Blöcke abgeschaltet werden. Wann die Atomkraftwerke ihre Arbeit wieder aufnehmen werden ist unbekannt. Der Widerstand der Gemeinden gegen die Atomenergie ist gigantisch.
Auf der anderen Seite hat sich das Importproblem verschärft. Tokio hat sich unter dem Druck der USA fast schon bereit erklärt, sich den Sanktionen gegenüber dem Iran anzuschließen und die Erdölimporte von dort, die zehn Prozent des gesamten Erdölimportes des Landes ausmachen, zu reduzieren. Ja, die gesamte politische Situation im Nahen Osten ist in Bewegung. Der latente Konflikt zwischen Iran und Saudi Arabien nimmt an Schärfe zu. Es gibt Anzeichen einer Destabilisierung im Irak und in Libyen, die Stellung der USA in der Region gestaltet sich immer ungewisser. Und all dies geschieht vor dem Hintergrund des anwachsenden Erdöl-Hungers Chinas, Indiens und Südkoreas.
Als eine Variante, die Krise zu überwinden, wird die Zusammenarbeit mit Russland betrachtet. “Ich bin davon überzeugt”, äußerte sich der Ministerpräsident Japans Yoshihiko im Rahmen einer Pressekonferenz anlässlich des Jahrestages der Havarie, “dass Japan und Russland über ein gewaltiges Potential verfügen, ihre Zusammenarbeit auszubauen, besonders im Bereich Energie. (..) Wir haben darüber mit Entscheidungsträgern Russlands diskutiert und sind zu dem Konsens gekommen, dass die beiden Länder daran arbeiten müssen”.
Japan hat sich immer schon Hoffnungen auf das sibirische Erdöl und -gas gemacht und bereits an der Erschließung der Schelfgebiete um Sachalin mitgewirkt. Nach der Katastrophe hat Russland auf Bitten Japans die Lieferung von Flüssiggas dorthin drastisch erhöht. Die Verhandlungen zum Bau eines zweiten Werks im Fernen Osten zur Gasverflüssigung wurden intensiviert. Im Dezember wird die Erdölpipeline Ostsibirien – Pazifik den Fernosthafen Ksamino erreichen. Die objektive Grundlage, sowohl geografisch, als auch ressourcentechnisch, für einen qualitativen Sprung nach vorn in den Beziehungen ist gegeben.
Das Problem besteht jedoch darin, dass eine qualitative Verbesserung der Beziehungen mit Moskau von Tokio immer an der Rückgabe der umstrittenen südkurilischen Inseln festgemacht worden ist. Andererseits reagieren die USA stets sehr dünnhäutig auf alle Versuche Moskaus, die Beziehungen zu den Nachbarn Russland auf Basis gemeinsamer Energieinteressen zu gestalten. So war es bereits in Europa bei der Entwicklung von Projekten zum Bau von Erdgaspipelines aus Russland.
Wenn sich also Tokio zu einer Zusammenarbeit mit Moskau auf dem Gebiet der Energiewirtschaft entschließen sollte, so müsste das Land nicht nur seine territorialen Ansprüche an Moskau korrigieren, sondern auch die Meinung der USA berücksichtigen, denn Amerika war in der Nachkriegszeit immer der einzige Garant für Japans Sicherheit.
Der Störfall in Fukushima hat die Grundfesten des japanischen Staates und der japanischen Gesellschaft erschüttert, er ist eine Belastungsprobe für Wirtschaft und Politik, Sicherheit und gesellschaftliches Bewusstsein. Ob Japan sich diesen Herausforderungen stellen werden kann, wird die Zukunft zeigen. Die Zeiten des friedsamen Wohlstandes allerdings gehören offenbar der Vergangenheit an.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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