Foto: ITAR-TASS
Anton Tschechow hat eine Kurzgeschichte geschrieben über einen Mann, der einen neuen Pass braucht. Der zuständige Beamte übersieht den Antragsteller so lange, bis dieser ein Goldstück auf den Tisch legt. „Harmlos!“ würden viele Russen und in Russland lebende Ausländer dazu heute sagen. Im 21. Jahrhundert hat die Korruption andere Dimensionen.
Bestechlichkeit gab es schon auch in der Sowjetunion und in der Zarenzeit. Historiker glauben, dass diese Tradition mit den Tataren kam, die Russland vom 13. bis zum 16. Jahrhundert beherrschten. Sie setzten russische Fürsten als Statthalter ein, die machen konnten, was sie wollten, wenn sie nur den festgesetzten Tribut bezahlten. Die Fürsten nutzten diese Freiheit weidlich, stimmten die Khane mit Geldgeschenken günstig und sorgten dafür, dass sie selbst nicht leer ausgingen. Damit bildete sich das Prinzip heraus, dass jede Position, sei es die eines Fürsten oder eines Dorfpolizisten, eines Lehrers oder eines Richters, eine Möglichkeit darstellt, Schmiergelder einzusammeln. Bei Gogol ängstigt ein Beamter die unwissenden Bauern seines Bezirks, in dem er harmlose dienstliche Schreiben als drakonische Erlasse interpretiert, von deren Geltung sie sich aber freikaufen können. In einem zeitgenössischen Witz wird ein junge Polizist gefragt, warum er dien niemals sein Gehalt in der Zahlstelle abhole. „Ach, gibt es auch noch ein Gehalt?“ ist die Gegenfrage.
Solche Geschichten gibt es in Russland zu Hunderten. Sicherlich natürlich darum, weil Korruption eine Krankheit ist, ein Krake, der die gesamt Gesellschaft aussaugt. Das Land steht auf Rang 154 von insgesamt 178 auf dem Korruptionsindex von Transparency International. Die Russen erzählen aber auch deshalb so viele Geschichten über Korruption in ihrem Lande, weil sie ihre eigenen Fehler gerne herausstreichen und ins Überdimensionale vergrößern. Das unterscheidet sie von anderen Völkern, die ihre Fehler lieber vornehm verschweigen. Lautstarke Selbstbezichtigungen verführen aber auch dazu, sich vor Lösungen zu drücken. Ein Antikorruptions-Gesetz, wie es jetzt diskutiert wird, ist überfällig. Aber es muss auch angewendet werden.
Korruption gibt es überall, auch bei uns im Westen. Am leichtesten ist sie dort zu entdecken, wo Amtsträger unverschämt die Hand offen halten, wenn irgendwer etwas von ihnen will. Fast unsichtbar ist sie dort, wo die Eliten so geschickt miteinander kungeln, dass sie dabei nur selten die Legalität verlassen. In solchen Fällen ist es kaum möglich, etwas nachzuweisen. Die Affäre Wulf hat es ermöglicht, solche Beziehungsgeflechte zu durchleuchten. Wir sollten aber nicht glauben, dass damit das Problem der Korruption erledigt ist. Erst muss ein Missstand in seiner ganzen Tragweite erkannt sein, damit er konsequent angegangen wird. Da sind wir in Deutschland noch nicht weit. Aber auch das schönste Problembewusstsein ist noch keine Garantie dafür, dass wirklich etwas passiert – siehe Russland.
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