Ein Märchen namens Titanic

Seit einem Jahrhundert schlummern die rostigen Gebeine des sagenumwobenen Luxusdampfers am Meeresgrund. Wie es heute da unten aussieht, wissen wir dank russischer Technik.

Jewgenij Tschernjajew tritt auf, wie es sich für einen ausgezeichneten „Helden Russlands“ gehört. Ein Mann mit versteinerten Gesichtszügen, aufrechter Haltung, grauen Strähnen im Schnurrbart, auf seinem Jackenärmel prangt groß die russische Flagge. Doch alles ändert sich, wenn Tschernjajew in Gedanken abtaucht. In eine Welt unter Wasser. Dann wird aus Jewgenij Schenja. Mit diesem Kosenamen rufen ihn seine Mitarbeiter. Das Gesicht des 57-Jährigen bekommt etwas Lausbubenhaftes, und die Sätze finden kein Ende mehr. Jewgenij Tschernjajew erzählt von Bronzeleuchtern, die nach Jahrzehnten unter Wasser immer noch glänzen, Flaschen, auf denen noch immer Korken stecken und Holzsäulen mit fabelhaften Schnitzereien.


Jewgenij Tschernjajew tauchte Mitte der 1990er über 30 Mal zum Wrack. Foto: ITAR-TASS

Tschernjajew hat das nicht irgendwo gesehen. Er spricht von dem Schiff, das wie kein zweites Begeisterung und Fantasie der Menschen beflügelt hat: die „Titanic“. Am 15. April vor 100 Jahren ist sie gesunken. Und wohl niemand kennt das Wrack, das in einer Tiefe von fast 3800 Metern am Grund des Atlantischen Ozeans ruht, so gut wie Jewgenij Tschernjajew.

Achtmal „Titanic“

Als Pilot des russischen Forschungs-U-Boots Mir-2 hat er acht Expeditionsfahrten zur „Titanic“ unternommen, insgesamt kommt er auf etwa 1000 Stunden Tauchgang rund um das sagenumwobene Wrack. Er habe von dieser Rolle in der Geschichte der „Titanic“ nie geträumt, sagt er, nicht einmal daran zu denken gewagt. Es sei ihm irgendwie passiert. Genauer müsste man sagen: Die Perestrojka kam für Tschernjajew gerade zur rechten Zeit.

Der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West war noch nicht lange gefallen, da befanden sich Russen und Amerikaner schon gemeinsam auf Tauchfahrt zur „Titanic“. Der amerikanische Unterwasser-Archäologe Robert Ballard hatte das Wrack im Herbst 1985 entdeckt, zwei Jahre später lieferte die finnische Firma Rauma-Repola die am Moskauer Schirschow-Institut für Ozeanologie entwickelten Forschungs-U-Boote Mir-1 und Mir-2 an Russland aus. Da traf es sich gut, dass die kanadische Filmfirma IMAX gerade auf der Suche nach einem geeigneten Gefährt war, um den Dokumentarfilm „Titanica“ zu drehen. 

Es hätte andere U-Boote anderer Staaten gegeben, die ebenso tief hätten tauchen können. Aber keines erfüllte die Anforderungen der Filmemacher so gut wie die Mir. Sie bot Platz genug für Kamera und Taucher, und sie hatte ein extragroßes Bullauge, durch das sich ungestört filmen ließ. Als Regisseur Stephen Low Jewgenij Tschernjajew fragte, wie viel Energie und Licht das kleine U-Boot liefern könne, fiel die Antwort kurz und prägnant aus: „Du bekommst von mir so viel Licht, wie du brauchst.“

Am 10. Mai 1991 stach das russische Forschungsschiff „Akademik Mstislaw Keldysch“ von Kaliningrad aus in See. An Bord: die beiden Mir-Boote und eine internationale Crew, darunter Jewgenij Tschernjajew, der seinem Glück immer noch nicht ganz trauen wollte.

Tauchgang in große Tiefe

Denn eigentlich standen die Dinge in Russland und am Schirschow-Institut 1991 nicht gerade zum Besten. Das Land war in Aufruhr, die Wirtschaft zusammengebrochen. Die Tiefseeforscher bangten um ihre Existenz, an eine 
Zukunft wagten sie gar nicht zu denken. Die Mir-Piloten hatten noch fast keine Erfahrungen mit Tauchgängen in dieser Tiefe, und das Wetter über dem Atlantik spielte zunächst nicht mit.

Doch alle Stürme waren vergessen, als die beiden Mir-Boote tatsächlich das erste Mal das Wrack der „Titanic“ erreichten. Tschernjajew teilte sich den engen Platz mit der IMAX-Kamera und zwei Kameraleuten, das Steuer erreichte er nur mit äußersten Verrenkungen. Tschernjajew hat davor und danach noch viele andere Wracks gesehen, das der „Bismarck“ zum Beispiel, und er ist bis auf dea Boden unter dem Nordpol getaucht. Die Erinnerung daran, wie das Skelett der „Titanic“ plötzlich aus dem Dunkeln auftauchte, stoppt noch über 20 Jahre nach dem Tauchgang seinen Redefluss. So viele Gedanken sind auf den U-Boot-Piloten eingestürzt, dass er sie kaum in Worte fassen kann. Er habe daran denken müssen, wie dieses imposante Schiff über den Ozean geflogen sei, was für mutige Männer und Frauen dort gearbeitet hätten und welche Tragödie der Untergang gewesen sei. Tschernjajew erkannte rostige Relingsstangen, Silbermünzen, unbeschädigtes Geschirr. „Das Wasser ist mein Element, und jeder Tauchgang ein Märchen“, sagt er. Die „Titanic“ ist sein Lieblingsmärchen.

Dass der amerikanische Regisseur James Cameron nur ein paar Jahre später gemeinsam mit den beiden Mir-Crews aufbrach, um seinen Spielfilmklassiker „Titanic“ zu drehen, kann man fast als Happy End dieses Märchens bezeichnen. Auch wenn die Arbeit mit dem Perfektionisten Cameron manchmal zu einer Tortur wurde. Bis zu 18 Stunden verbrachte die Crew unter Wasser, allein fünf Stunden dauerten Ab- und Aufstieg. Immer wieder verlangte der Regisseur, die aufwendigen Kamerafahrten ein zweites und ein drittes Mal zu wiederholen. Jeder Tauchgang wurde vorher an Deck der „Keldysch“ in einem dunklen Zelt an einem Modell millimetergenau geprobt. Zur Simulation des trüben Wassers wurde Rauch ins Zelt gelassen.

Aufnahmen vom Wrack

„Cameron will die beste Technik, das beste Team, die besten U-Boote“, sagt Jewgenij Tschernjajew, und in seiner Stimme klingt Bewunderung mit. Dass der technisch versierte Cameron schon lange von der Unterwasserwelt fasziniert war, half bei der Zusammenarbeit. „Er ist wie ein Ingenieur, versteht alles.“


Jewgenij Tschernjajew trifft den berühmten amerikanischen Regisseur James Cameron. Foto: RIA Novosti / Alexey Vlasov

Cameron ist später der russischen Tiefseewelt treu geblieben. 2010 tauchte er mit der Mir-1 auf den Grund des Baikalsees. Seine letzte Expedition vor wenigen Tagen führte ihn zum tiefsten Meerespunkt, dem Marianengraben – 50 Jahre, nachdem der Schweizer Forscher Jacques Piccard zuletzt dort war. Die Russlandpremiere von Camerons „Titanic“ fand schließlich in Kaliningrad statt, dem Heimathafen der „Akademik Mstislaw Keldysch“. Jewgenij Tschernjajew hat der Film durchaus gefallen. Am allerbesten natürlich die Szenen, die Originalaufnahmen vom Wrack zeigen. Wenn man aufmerksam hinschaut, kann man es erkennen, das Märchen des Schenja Tschernjajew.


Diana Laarz schreibt für die Agentur Zeitenspiegel Reportagen.

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