Viel Geld und wenig Menschen

Foto: Reuters/Vostok Photo

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Das Gipfeltreffen der Asiatisch-pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft im September verhilft dem wirtschaftlich schwachen Wladiwostok zu großen Summen an Fördergeldern. Doch ob eine positive Entwicklung jenseits von Großprojekten möglich ist, muss sich noch zeigen, denn die Menschen zieht es in andere russische Städte und ins Ausland – dort haben sie bessere Chancen.

Fotos: Artjem Sagarodnow


Nach seinem Besuch in Kalifornien forderte Nikita Chruschtschow einst die Einwohner von Wladiwostok auf, es zu „unserem San Francisco werden zu lassen“. Ein halbes Jahrhundert später ist die russische

Führung entschlossen, seinen Traum in die Tat umzusetzen: Der APEC 2012-Gipfel soll es richten. Dabei springen dem Besucher tatsächlich Ähnlichkeiten zwischen den zwei Städten ins Auge: die Gebäude und Straßen, die sich entlang der Hügel der Goldenen-Horn-Bucht schlängeln; die Straßenbahn, die durch Wladiwostoks größte Durchfahrtsstraße zuckelt; das Chinesenviertel; ein boomender Hafen am Pazifik und der immer gegenwärtige Morgennebel.

   

Milliarden von Dollars

In diesen Tagen funkeln in Wladiwostok überall die Lichter von Schweißbrennern, während die hügelige Innenstadt mit Baukränen übersät ist – hier werden gerade Milliarden von Dollars verbaut, die Russlands Regierung vor dem für September vorgesehen APEC-Gipfel in die Stadt pumpt.

Eines der eindrucksvollsten Projekte ist die Brücke zu der Wladiwostok am nächsten gelegenen Insel Russkij - die „Russische Insel“ wird der Veranstaltungsort des kommenden Gipfels sein. Der Bau der drei Kilometer langen Brücke, die teilweise durch Masten gehalten wird, die auf zwei künstlich errichteten Inseln stehen, wurde vor nicht einmal drei Jahren begonnen. Der Hauptmast erreicht eine Höhe von über 300 Metern und nach ihrer Fertigstellung im Sommer wird die Brücke die längste Schrägseilbrücke der Welt sein (geschätzte Baukosten: 750 Milliarden Euro).

„Wenn wir über Innovation und Modernisierung sprechen, meinen wir genau das“, sagte Alexander Ognjewskij, Staatssekretär im Ministerium für Regionalentwicklung und zeigt dabei zur Brücke. „Mehrere internationale Gesellschaften haben sich aus dem Bieterverfahren zurückgezogen, weil sie der Meinung waren, dass das Projekt nicht zu realisieren sei; am Ende erhielt ein Unternehmen aus Omsk den Zuschlag. Die Technologie und das Knowhow, das sie mit diesem Projekt entwickelt haben, werden anderswo angewandt und sogar ins Ausland exportiert.“

Ausbeutung von Gastarbeitern

Aber der Erfolg hängt zum größten Teil von den Scharen von Bauarbeitern ab, die die Stadt wiederaufbauen. Journalisten ist jeglicher Kontakt mit den Arbeitern strikt verboten.

„Sie befürchten, dass die Arbeiter Ihnen darüber erzählen könnten, wie sie behandelt werden“, sagte uns Bachodir Nurakow, ein junger Usbeke, der bei einer Wladiwostoker NGO beschäftigt ist, die die Rechte der Arbeiter in der Region schützt und Immigranten sowie deren Arbeitgebern im Falle von Amtsmissbrauch hilft. Nurakow beklagt sich nicht über das komplette Projekt, sondern über bestimmte Auftragnehmer. Diese missbrauchten eine Regelung, die es gestattet, Immigranten neunzig Tage legal anzustellen, ohne sie mit einer Langzeitarbeitserlaubnis zu versorgen. „Sie versprechen ihnen, sie für die ersten neunzig Tage zu bezahlen, und dann feuern sie sie einfach. In dieser Situation haben die Arbeiter keinen gesetzlichen Schutz mehr, weil sie zu illegalen Einwanderern werden“, erklärte er. „Einige von ihnen wollen zusammen zurückreisen, haben aber das Geld für die Fahrkarte nicht. Sie müssen weiterarbeiten, um überleben zu können.“

Brücke ins Nirgendwo?

Eine andere düstere Geschichte hat mit dem demographischen Niedergang des Gebiets zu tun. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre sind 300.000 Menschen in gastlichere Gebiete Russlands oder ins Ausland weggezogen – das ist die Hälfte der ohnehin spärlichen Bevölkerung von Wladiwostok.

 „Von den Studenten weiß ich, wer Chinesisch lernt – mindestens zwei Drittel von ihnen wollen nach dem Hochschulabschluss ihre Karriere im Ausland starten“, teilte Viktor Larin, Direktor des Instituts für Geschichte, Archäologie und Völkerkunde der Völker des Fernen Ostens, mit. „Die Infrastruktur der Stadt gleicht einem Schlachtfeld. Straßen zerfallen; nirgends kann ich einen Spaziergang mit meiner Frau unternehmen. Wenn man die Leute wirklich dazu bewegen möchte, hier leben zu wollen, darf man keine Brücken nach Nirgendwo bauen“.

„Jeder macht sich Gedanken darüber, was passiert, wenn der Gipfel

vorbei sein wird“, erklärt Wassilij Awtschenko, der hiesige Korrespondent der Tageszeitung Nowaja gaseta. „Wir haben hier ja noch nicht einmal eine eigene Seafood-Industrie. Das ist besonders deprimierend, wenn man daran denkt, dass vor nicht all zu langer Zeit die einheimischen Seafood-Fabriken, wie zum Beispiel das Unternehmen DalMorjeProdukt im ganzen Land berühmt waren. Wir sollten hier boomende, quirlige Fischmärkte und Seafood-Erlebniscafes haben. Ich wünsche mir, dass Wladiwostok als die ‚fischigste’ Stadt Russlands – im positiven Sinne! – berühmt wird und Leute hierher kommen, um die lokale Kochkunst auszuprobieren.“

Neue Führung

Mitte März drängte sich bei dem für die Stadt typischen tristen Morgenwetter eine Menge von eifrigen Journalisten im Erdgeschoss des Marmortreppenhauses des lokalen Regierungssitzes. Sie warteten auf das Abstimmungsergebnis für den 44-jährigen Wladimir Mikluschewskij bei der Wahl zum Gouverneur. Der vorherige Gouverneur, Sergej Darkin, war von Präsidenten Dmitrij Medwedjew erst vor wenigen Wochen nach einem Jahrzehnt an der Macht plötzlich entlassen worden. Diese Nachricht war ein Schock für viele Einheimische, die ihm seine Lobbyarbeit hoch anrechnen, dank der ein nicht unerheblicher Anteil der Föderationsmittel nach Wladiwostok geflossen ist.

Der neue Gouverneur Mikluschewskij wurde von einem breiten Wählerspektrum gewählt, was für niemanden wirklich eine Überraschung war - er hatte versprochen, Transparenz und den Anti-Korruptions-Kampf zum Eckstein seines Gouverneursamtes zu machen. In einem Interview mit Journalisten nach der Stimmenabgabe gab er bekannt, dass „wir unsere strategische Entwicklung auf die wissenschaftlichen und pädagogischen Ressourcen aufbauen, über die wir verfügen, besonders in Form des Fernost-Ablegers der Akademie der Wissenschaften und der Föderalen Fernost-Universität.”

“Der APEC-Gipfel wird einen direkten Einfluss auf die strategische Entwicklung von Wladiwostok haben”, äußerte Mikluschewskij sich gegenüber Russland HEUTE. „Die 200 Milliarden Rubel (ca. 50 Milliarden Euro) der Finanzierung aus Föderationsmitteln, die hier ankommen, werden die Infrastruktur verbessern. Deren niedriges Niveau ist eine Hürde für Investitionen. Es wird zudem Wladiwostok auf der Weltkarte deutlicher hervorheben und es über den APEC-Gipfel hinaus bekannt machen. Wir dürfen diese Gelegenheit nicht ungenutzt vergehen lassen“.

 „Er ist ein guter Manager und steht den lokalen kriminellen und Geschäftseliten nicht sehr nahe”, meint Awtschenko, der lokale Korrespondent. „Aber ich frage mich, was eine einzelne Person in Russlands gegenwärtigem politischen System denn schon ausrichten kann – es muss eine ganze Menge in der Wirtschaft, der Gesetzgebung und besonders bei der Anwendung der Gesetze geändert werden. Andererseits zeigen solche Städte wie Singapur, dass es möglich ist.”

„Aber ich habe definitiv das Gefühl, dass Wladiwostoks Entwicklung einen ganzen Teil ihres Potentials verloren hat, besonders im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte,” setzt er fort. „Das betrifft die Wirtschaft, die Kultur sowie die grundlegende Lebensqualität. Ich hoffe, dass wir den Fortzug der Leute aufhalten können und das enorme Potential begreifen werden, das unsere Stadt geerbt hat. Nur die Zeit wird es zeigen können, wie begründet meine Hoffnung ist.”

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