Russische Realisten auf Wanderschaft

Gemälde der Wandermaler in den Kunstsammlungen Chemnitz. Foto: Andre Koch

Gemälde der Wandermaler in den Kunstsammlungen Chemnitz. Foto: Andre Koch

Maler wie Ilja Repin machten sich Ende des 19. Jahrhunderts daran, ihr eigenes Land zu erforschen. Die Ausstellungen der Peredwischniki provozierten das restriktive Zarenregime.

Die Gemälde der Peredwischniki 

Die Ausstellung „Die Peredwischniki – Maler des russischen Realismus“ in den Kunstsammlungen Chemnitz hätte gewiss den Intentionen der Peredwischniki entsprochen, steht der Name doch für die „Gesellschaft zur Veranstaltung von künstlerischen Wanderausstellungen“.

1870 gegründet, wollte diese Sezessionsbewegung dem strengen, zensierten akademischen Kunstbetrieb im zaristischen Russland entfliehen und ihre Werke auch außerhalb der Metropolen Moskau und Sankt Petersburg zeigen, was den „schläfrigen Garnisonsstädtchen“, so ein Zeitgenosse, „die frische Luft der freien Kunst“ 
bescherte. Zu einer Zeit, als das akademische Kunststudium in Russland unter Polizeiaufsicht stand, ein mutiger und erfolgreicher Akt der Emanzipation.

Auf ihrer Wanderschaft machen 87 Gemälde von 41 Peredwischniki nach Stockholm nun in Chemnitz Station. Die Gemälde von Ilja Repin, Isaak Lewitan und Archip Kuindschi, um nur die Bekanntesten zu nennen, stammen aus der Tretjakow-Galerie Moskau und dem Staatlichen Russischen Museum Sankt Petersburg. 


„Ich glaube fest, dass die allgemeine Aufklärung bei uns niemandem schaden kann“, schrieb Fjodor Dostojewski 1873, bemerkte aber: „Das Volk ist für uns alle noch immer Theorie und ein Rätsel.“ Ein Land begann, sich zu entdecken. Entdeckungen, die man in der Ausstellung nachvollziehen kann und die ihr Licht auch auf das heutige Russland werfen. Nicht nur die Landschaft, vor allem das Volk wurde Gegenstand der Malerei – vom aufgeklärten Bürger über selbstbewusste 
Studenten bis zu den gerade von der Leibeigenschaft befreiten Bauern.


Mit ihrer Nähe zum Volk trugen die Peredwischniki dazu bei, dass sich ein Land, das aus dem Feudalismus ins bürgerliche Zeitalter strebte, seiner selbst bewusst wurde. „Unerwartet“ von Ilja Repin aus den Jahren 1884/1888 erzählt in einer einzigen Szene die Tragik jener Jahre: das Bild des von Anarchisten ermordeten Zaren Alexander II. an der Wand, das ungläubige Staunen der Familie ob des plötzlichen Heimkehrers, der wohl politischer Häftling war und als gebrochener Mensch zurückkommt. Nur ein kleiner Junge freut sich.


Viele Bilder erzählen solche Geschichten, die nicht immer eindeutig und oftmals vielleicht „klüger“ als ihre Schöpfer sind. Selbst politisch inspirierte Gemälde wie Wladimir Makowskis „Abendgesellschaft“, das die Zusammenkunft einer Gruppe von Geheimbündlern darstellt, lassen sich nicht auf Sozialkritik reduzieren – ebenso wenig wie das berühmteste Bild der Ausstellung, „Die Wolgatreidler“ von Ilja Repin, dem es um Menschenwürde und Wahrhaftigkeit ging.


Die Ausstellung zeigt berührend die Kraft realistischer Malerei, wenn sie von politischer Instrumentalisierung frei und der Wahrheit verpflichtet ist. Dann behält sie ihren Zauber und ihre aufklärerische Kraft und spiegelt wie in einem prophetischen Bilderbogen auch das heutige Drama Russlands: die schöne, schiere Unendlichkeit des Landes, in dem es Jahre dauern kann, ehe politische, soziale, wirtschaftliche Veränderungen im letzten Winkel angekommen sind; das wilde Selbstbewusstsein wie in Repins „Die Saporoscher Kosaken schreiben einen Brief …“; die bestürzende Ungleichzeitigkeit von Fortschritt und Rückständigkeit in den „Wolgatreidlern“, in deren Hintergrund ein Dampfschiff zeigt, dass die unmenschliche Arbeit längst überflüssig wäre; die tiefe Spaltung in Aristokratie, aufgeklärtes Bürgertum und mysteriöses „Volk“. Dem Leid und der Hoffnung dieses Volkes haben sich die Peredwischniki angenommen.

Der Autor ist Mitarbeiter der Freien Presse Chemnitz.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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