„Seit 2011 treten in Russland wieder konservative Tendenzen auf“

Die Gendersoziologin Irina Kosterina (34). Foto: Pressebild

Die Gendersoziologin Irina Kosterina (34). Foto: Pressebild

Die Koordinatorin des Projekts „Geschlechterdemokratie“ der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau über Feminismus und Antifeminismus in Russland.

Wie groß ist das Interesse am Thema „Geschlechtergleichheit“ und Feminismus in der russischen Gesellschaft?

Das Interesse an diesem Thema ist sehr groß. Man spürt, dass es die Menschen bewegt. Gender ist ein ständiger Begleiter, mit dem wir jeden Tag konfrontiert werden. Für den Feminismus trifft diese Aussage zweifelsohne so nicht zu. In Russland sind zwei Themen noch immer mit einem Stigma behaftet: Das sind die LGBT-Rechte [Lesbian, Gay, Bisexual und Trans] und der Feminismus. Sie sind mit den schlimmsten Vorurteilen belegt.


Liegt das an einer fehlenden Auseinandersetzung mit den Zielen der Feministen?

Wenn man allgemein von den weltweiten Trends ausgeht, dann stehen Männer- und Frauenbewegungen im Einklang miteinander. Weil ihr Wesen nicht darin besteht, dass der Feminismus für Frauen ist und gegen Männer und die Männerbewegungen etwa für Männer und gegen Frauen. Der Feminismus tritt für Geschlechtergleichheit ein, und diese Gleichheit schließt die Männer mit ein.

Was ist zum Thema „Vaterschaft“ in der russischen Gesellschaft zu sagen?

Viele Männer haben die Vorstellung, dass der Vater derjenige ist, der das Geld verdient, seine Familie versorgt und derjenige, der nur im Ausnahmefall die Rolle des Erziehers übernimmt, indem er sagt: „Warum hast du dich mit Petja geprügelt? Das macht man nicht!“ Aber zu hinterfragen, was in der Innenwelt des Kindes vor sich geht, was es beschäftigt – dazu sind längst nicht alle Männer bereit. Man ist der Auffassung, für das Emotionale seien die Frauen zuständig.

Welche Entwicklung macht die russische Gesellschaft zurzeit durch?

Erwähnenswert scheint mir, dass in Russland seit 2011 konservative Tendenzen deutlicher zutage treten. Das fand vor allem Ausdruck in einem Gesetzesentwurf zur Einschränkung der Abtreibungsrechte der Frauen. Die Staatsduma hat diese Änderungspläne in Form zweier Gesetzesentwürfe im Bereich Reproduktionsmedizin und Gesundheit massiv unterstützt. Die russisch-orthodoxe Kirche war an der Ausarbeitung dieser Gesetzesentwürfe unmittelbar beteiligt und fungierte als wichtigster Berater. In Reaktion auf diese Pläne kam es in Moskau und Sankt Petersburg sowie anderen Städten Russlands zu öffentlichen Protestaktionen, die zum Teil erfolgreich waren. Die gravierendsten der geplanten Änderungen konnten zum Glück verhindert werden. Beispielsweise die Zustimmungspflicht des Ehemanns zur Abtreibung, was realitätsfremd ist angesichts der Situation, dass viele geschlossene Ehen nur auf dem Papier existieren. Die neuen konservativen Tendenzen zeigen sich auch darin, dass in Sankt Petersburg vor Kurzem in zweiter Lesung ein Gesetz gegen homosexuelle Propaganda verabschiedet wurde.

Spielt hier die demografische Entwicklung eine Rolle?

Die demografische Entwicklung ist unser Dauerproblem, die staatlichen Strukturen und die Kirche sind sehr besorgt und bemüht, die Geburtenrate anzuheben. Aber unsere Politiker vernachlässigen hierbei die Erkenntnisse der Experten und begreifen nicht, dass ohne Migranten eine demografische Wende nicht mehr herbeizuführen ist. Die Zeit der Großfamilien mit vielen Kindern ist vorbei. Die Menschen können nicht auf alles verzichten: Arbeit, soziale Kontakte, Reisen.

Was halten Sie von Ausdrucksformen des Feminismus wie der Band Pussy Riot?

Das hat seine Logik, so etwas musste kommen. Weltweit sind feministische Bands aktiv. Auf den russischen Demos gibt es jetzt auch immer einen oder mehrere feministische Blöcke. Seine Anhänger und die Vertreter der LGBT-Community gehen zusammen. Das finde ich super. Mit der Zeit wird das zu mehr Toleranz führen, einfach als Folge der Präsenz dieser Menschen.

2011 promovierte Irina Kosterina zum Thema „Maskulinität“ und koordiniert seit 2009 bei der Heinrich-Böll-Stiftung das Programm „Geschlechterdemokratie“, in dessen Rahmen Informationsveranstaltungen wie Gender-Schulungen für junge Aktivisten stattfinden sowie Konferenzen über gesellschaftliche Gleichstellung. Kooperationspartner sind die Internetportale polit.ru und chaskor.ru.


Dieser Text erschien zuerst im Dossier „Gender“ des Goethe-Instituts.

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