Letzte Ruhestätte für Atommüll

Das russische Bergungsboot „Transschelf“ bringt zwei ausrangierte Atom-U-Boote zur Abwrackung nach Murmansk. Foto: Witalij Ankow/ Ria Novosti

Das russische Bergungsboot „Transschelf“ bringt zwei ausrangierte Atom-U-Boote zur Abwrackung nach Murmansk. Foto: Witalij Ankow/ Ria Novosti

Mit deutscher Technologie und Geld aus Berlin wird auf der Kola-Halbinsel bei Murmansk die atomare Nordmeerflotte beerdigt. 2014 soll das Projekt abgeschlossen werden.

Detlef Mietann kann sich noch sehr gut erinnern, wie das war, im warmen deutschen Herbst 2003. Da landete er zum ersten Mal in Murmansk, 250 Kilometer über dem Polarkreis. Schneesturm. Minus 15 Grad. Auf dem Weg in die Saida-Bucht sah er Hügel, Felsen, Ruinen von Baracken. Vor der Küste dümpelten um die 50 rostige U-Boote, von denen niemand zu sagen wagte, wie sehr sie radioaktiv strahlen. Es kostete selbst einen Experten wie Mietann viel Fantasie, sich vorzustellen, dass man diese trostlose Gegend umkrempeln könnte. Und trotzdem haben sie es getan.


Reaktoren in Containern


Die Kola-Halbinsel im Norden Russlands, Standort der Nordmeerflotte, ist weltweit die Region mit der höchsten Konzentration von Atomreaktoren. Viele von ihnen sind Altlasten, notdürftig gesichert, vergessen. Doch in der Saida-Bucht tut sich was. Gerade ist der Rohbau einer über 
10 000 Quadratmeter großen Halle fertig geworden. Drinnen laufen schon die Kräne an Schienen an der Decke. Nebenan lagern 47 zylinderförmige Container, jeder groß wie ein Einfamilienhaus, auf einer dicken Betonplatte. Das bleibt übrig, wenn ein Atom-
U-Boot abgewrackt wird: ein Teil des Rumpfes, die Reaktorsektion, jede beinhaltet im Schnitt zwei Reaktorhüllen.


Es dauert noch Jahrzehnte, bis die Radioaktivität so weit abgeklungen ist, dass Menschen die Sektionen von Hand zerlegen können. Bis dahin liegen sie auf einem 
U-Boot-Friedhof, der mit deutschen Geldern finanziert wurde. Mietann leitet das Projekt auf deutscher Seite. Zuletzt hat er in der Saida-Bucht ermutigende Beobachtungen gemacht: Möwen, Wildenten und Robben. Die Natur erobert sich Erde zurück, die als verloren galt.


2003 schlossen das deutsche Wirtschafts- und das russische Atomenergieministerium ein Abkommen. Der Inhalt: Deutschland hilft Russland bei der Entsorgung der stillgelegten Nordmeerflotte. Russische und deutsche Firmen bauen das Lager für die Reaktorsektionen, einen Dockanleger, Straßen und Wachtürme, sie holen Schiffswracks aus der Saida-Bucht und rüsten die Nerpa-Werft technologisch auf. Kurz: Deutschland liefert die nötige Infrastruktur, Russland entsorgt die radioaktiven Abfälle. Projektmittel aus Berlin: 600 Millionen Euro. 


Das deutsch-russische Abkommen gehört zu einer Initiative der 
G8-Staaten, die 2002 beschlossen, 20 Milliarden Dollar bereitzustellen, um die atomaren Altlasten des Kalten Krieges zu beseitigen. Es ist ein Abrüstungsprojekt, das unter anderem verhindern soll, dass radioaktives Material in die Hände von Terroristen fällt oder in die Umwelt gerät.


Diese Gefahr war in Russland besonders hoch: Über 200 Atom-
U-Boote soll die Sowjetmarine 
besessen haben. Als die Sowjetunion zusammenbrach, verfiel die Flotte, die U-Boote wurden zu 
tickenden Zeitbomben. Ein Transportschiff mit radioaktivem Abfall sank mit voller Ladung, Serviceschiffe wurden mit Absicht versenkt, in den Häfen rosteten die U-Boote. Vor der Arktis-Insel Nowaja Semlja sollen 20 000 Container mit radioaktivem Abfall auf dem Meeresgrund liegen. Etwa 100 U-Boot-Sektionen sind noch für die Lagerung in der Saida-Bucht vorgesehen. Sie liegen an den Piers der Saida-Bucht, in der nahen Nerpa-Werft oder in anderen Buchten der Kola-Halbinsel. Von den 600 Millionen Euro, die Deutschland einst versprochen hat, sind inzwischen rund 440 Millionen Euro ausgegeben. Auf deutscher Seite leiten die Energiewerke Nord (EWN) das Projekt: EWN sammelte bei der Stilllegung der Kernkraftwerke Greifswald-Lubmin und Rheinsberg Erfahrungen. Für den Auftrag in Russland dienten die Projekte als Blaupause, mussten jedoch angepasst werden. In der Saida-Bucht herrscht sechs Monate im Jahr Winter mit Temperaturen bis zu minus 40 Grad.



Neues Entsorgungszentrum


Die Errichtung des Langzeitlagers für die Reaktorsektionen ist abgeschlossen. Nun beschäftigen sich Mietann und seine Kollegen vom Moskauer Kurtschatow-Institut für Kernforschung mit einer neuen Aufgabe. Bis Ende 2014 soll in der Bucht ein Entsorgungszentrum für radioaktive Abfälle entstehen. Alle strahlenden Materialien, die bei der Stilllegung der Flotte anfallen, können dann in unmittelbarer Nähe des Zwischenlagers zerschnitten, dekontaminiert und verpackt werden. 
Bis zur Fertigstellung der neuen Zerlegehalle ist die Nerpa-Werft der einzige Ort, an dem die Reaktorsektionen zur Lagerung vorbereitet werden können.


Das ist einer der Schwachpunkte in der Entsorgungskette. Die Werft hat laut Mietann genügend Kapazität, um zwölf U-Boote im Jahr abzuwracken, in der Tat sind es aber nur sieben pro Jahr. Der Umbau eines einzelnen U-Bootes kostet viel Geld, etwa vier bis fünf Millionen Euro. Der russische Staat gibt pro Jahr über die Atomagentur Rosatom 3,5 Milliarden Rubel (90 Millionen Euro) für die Entsorgung des nuklearen Erbes der Marine aus nach Meinung der westlichen Partner viel zu wenig: Ab und an finanzieren deshalb auch Länder wie Norwegen und Italien ein Projekt.

Die Agentur habe den Entsorgungsauftrag angenommen, erklärt ein Rosatom-Sprecher, weil diese Arbeit, für die ursprünglich das Verteidigungsministerium zuständig war, nur träge voranging. „Außerdem ist dieser Müll ein 
gemeinsames Erbe des Kalten Krieges, es müssen alle mit anpacken - Russen wie Europäer.“ Deutschland hat bislang die Konservierung von 20 Reaktorsektionen bezahlt. „Die Technologie ist inzwischen bekannt, das ist Arbeit vom Fließband“, sagt Mietann, „da soll Russland sich jetzt mal strecken.“


Detlef Mietann ist 58 Jahre alt. Er selbst sagt, er sei im Kernkraftwerk Lubmin groß geworden. Vor 30 Jahren, als er zum ersten Mal in unmmittelbarer Nähe eines Kernreaktors stand, hatte er noch großen Respekt vor der Strahlung. Diese Furcht ist dem Wissen gewichen. Und dem Vertrauen in die eingehaltenen Grenzwerte. In der Saida-Bucht sind sie schon seit mehreren Jahren unterschritten. Neulich hat Detlef Mietann den Robben beim Tauchen zugesehen. 2003, in jenem kalten russischen Herbst, wäre das noch undenkbar gewesen.

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