Occupy-Camp „Chistie Prudi“
Es war eine Art Abschied am Abend des 15.Mai. Vor dem Denkmal des kasachischen Dichters und Denkers Abai Kunanbaew hatten sich mehrere Tausend Menschen versammelt um „Occupy Abai“ die letzte Ehre zu erweisen. Seit dem 8.Mai belagerten die „weißen Bänder“, also Gegner des Putin-Regimes, einen Teil des Boulevards „Chistie Prudi“ im Herzen Moskaus. Tag und Nacht. Nach einer Woche musst das Camp geräumt werden. Und tauchte an anderer Stelle wieder auf.
Occupy Abai
Auf der Wiese hinter Abai sitzen ca. 30 Menschen verschiedener Altersgruppen im Kreis, in der Mitte zwei junge Männer mit Gitarre. Sie spielen so, als ob es ihr letztes Lied überhaupt wäre: das „Lied der Freunde“ aus dem sowjetischen Zeichentrickfilm „die Bremer Stadtmusikanten“. Der Kreis singt eifrig mit. Besonders herzzerreisend wird der Gesang bei der Textpassage: „Keine Reichtümer der Welt können uns die Freiheit ersetzten!“ Die nächsten Tage werden noch viele junge Menschen mit Gitarren verschiedene Lieder anstimmen, einige davon werden in regelmäßigen Abständen wiederholt. Wie etwa „Wir warten auf Veränderungen!“ der verstorbenen Rocklegende Viktor Zoj und „Heimat“ der lebenden Rocklegende Jurij Schevtchuk.
Der Sinn der Sache
Aber natürlich ging es bei „Occupy Abai“, ebenso wie bei der Fortsetzung des Protests in einem anderen Park, nicht einfach ums Singen. „Leider ist momentan noch Putin die Person, die uns alle vereint, aber wir finden hier heraus, was uns noch zusammenhält“, erzählt Isabell von Occupy Russia – sie gehört zum Orgateam. Im Alltag ist die hübsche junge Frau mit Rehbraunen Augen und dunkelbraunem Haar Japanisch Lehrerin. Hier bei Abai verbringt sie jede freie Minute. Ihr Vorschlag war es auch die „Assambleja“, eine Versammlung zu gründen, bei der alle die Möglichkeit haben organisatorische und ideologische Fragen zu besprechen und natürlich abzustimmen. „Wir sind gegen ein autoritäres Regime, warum sollten wir hier eins haben?“,sagt Isabell. „Wir haben keine Anführer. Wir treffen gemeinsam Entscheidungen.“
So nahm die Selbstorganisation der Menge erstaunliche Ausmaße an: eine Küche wurde organisiert bei der fleißige junge Männer hygienebedacht mit Handschuhen, Wurstbrote machen und Tee ausschenken. Auch Obdachlose stellten sich diese Tage hier für belegte Brötchen an – sogar mit weißen Bändern. „Die denken, nur wenn sie sich ein weißes Band anbinden, bekommen sie zu essen, dabei geben wir ihnen auch so gerne etwas“, erzählt Vova, ein junger Mann in schwarzem Kapuzenpulli und einem Funkgerät in der Hand. Er bewacht das Camp und achtet auf Ordnung und darauf, dass niemand gegen das Alkoholverbot verstößt. „Alkohol ist hier verboten, weil das Provokationen und Festnahmen provozieren kann“, erklärt er ernst. An seinem Handgelenk ist ein schwarz-gelbes Bändchen, die Farben russischer Nationalisten.
Diskussionsklub unter freiem Himmel
„Wer hätte gedacht, dass wir von Nationalisten bewacht und zur Ordnung aufgerufen werden“, sagt David, Philosophiedoktorand. Er steht im Halbkreis und lauscht Gedichten junger und nicht besonders junger Dichter. Überhaupt ähnelt „Occupy“ einem Diskussionsklub unter freiem Himmel. Wildfremde Menschen, die sonst so gehetzt, wie es in einer Großstadt eben ist, aneinander vorbei rennen, sprechen über unsere gemeinsame Zukunft. Wie Facebook, nur offline. „Jeder hat seinen eigenen Grund, warum er hier ist, aber ich finde, es ist unglaublich wichtig so oft es geht hier zu sein“, erzählt Dima, Psychologe. „Im Schnitt verbringe ich vier Stunden bei Occupy Abai“, fährt er fort. „Wenn man hier ist, vertritt man alleine dadurch eine Meinung. Und diese Vielzahl an Meinungen kann die Regierung einfach früher oder später nicht mehr ignorieren.“ Dimas Meinung ist, dass es nicht mehr so weitergehen kann.
„Und was wollen diese Leute?“ – fragen viele, die nie dagewesen sind. Es ist tatsächlich schwierig eine klare Antwort zu geben, denn es ist eine scheinbar endlose Liste an Gründen und Forderungen. „Egal wo wir auch hingucken, überall ist der totale Mist. Alles ist durch und durch verfault“, schreibt der Chefredakteur des oppositionellen Stadtmagazins „Bolshoj Gorod“ (Große Stadt), Philip Dzyadko. Und viele stimmen ihm zu. Auch die, die nicht den Spaziergang zu Abai gemacht haben. Übrigens kann man alles Live im Internet verfolgen. Die Kollegin von Sascha, eine Büroangestellte in den Fünfzigern macht das regelmäßig. Sie hat ihm eine Geldspende von fast 100 Euro mitgegeben. Als ihr Solidaritätsbeitrag.
Occupay Barrikadnaja
Occupy-Camp Barrikadnaja. Foto: Wasilij Maksimow/Ridus.ru
Am 16. Mai sind alle notgedrungen in einen anderen Park gezogen, an der Metrostation „Barrikadnaja“ (Barrikaden). Die Stadtverwaltung beschuldigte die Protestierenden den Rasen bei Abai beschädigt zu haben und berechnete einen Schaden in Höhe von 20. Millionen Rubel. Bei dem neuen Camp gibt’s kaum einen Rasen. Die wenigen Flecken Gras werden auf keinen Fall betreten. Schließlich gab es hier schon Festnahmen. Punkt 21 Uhr beginnt eine weitere Versammlung. Der Redner, - ein junger Mann mit Chaotenfrisur schreit so laut er kann, denn Mikrofone sind hier nicht erlaubt: „Bleiben wir hier, oder gehen wir?“ Die ersten Reihen wiederholen den Satz im Chor, damit auch die Hinteren alles hören. Das „lebendige Mikrofon“ funktioniert hervorragend. Die knapp 1000 Versammelten sind an diesem Abend fürs Bleiben. „Wir sind mehr, als man glaubt“ – steht auf der Titelseite des Stadtmagazins „Bolschoj Gorod“, was diese Tage viele demonstrativ in den Händen halten.
Die Occupy-Assemblee
Am Samstag rufen Moskauer Künstler zu einem gemeinsamen Spaziergang auf. Das Ziel soll das Occupy-Camp sein. Wie viele werden kommen? Mehr? Weniger? Egal! Was zählt ist, dass wirklich viele begriffen haben: es geht nicht um einzelne Oppositions- oder Staatsoberhäupter, sonder um uns selbst. Um unsere Zukunft und unsere Interessen. Und es ist gut zu wissen, dass es in deiner Stadt Menschen gibt, denen das alles nicht mehr egal ist.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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