Wie ein deutscher Luftrowdy auf dem Roten Platz landete

Ein deutscher Hobbyflieger auf dem Roten Platz - wer hätte sich das vorstellen können?

Ein deutscher Hobbyflieger auf dem Roten Platz - wer hätte sich das vorstellen können?

Am 28. Mai vor genau 25 Jahren geschah etwas Ungeheuerliches: Der deutsche Hobbyflieger Mathias Rust drang in den hoch gesicherten sowjetischen Luftraum ein und landete auf dem Roten Platz in Moskau - eine fast vergessene Geschichte.

An dem warmen Frühlingsabend des 28. Mai 1987, dem in der Sowjetunion gefeierten Tag des Grenzsoldaten, landeteim Zentrum Moskaus neben dem Roten Platz das einmotorige Leichtflugzeug des Typs Cessna 172R so akkurat, dass noch nicht einmal das Oberleitungsnetz der Trolleybusse durch seine Flügel Schaden nahm.

Aus dem Cockpit stieg ein hochgewachsener junger Mann in rotem Overall und machte sich freundlich daran, Autogramme an die herbeigeeilte Schar neugieriger Passanten zu verteilen. Es dauerte keine viertel Stunde, da war ein Sicherheitsbeamter der Verwaltung administrativer Gebäude vor Ort. Zwei Männer forderten den Mann auf, in ein Auto zu steigen, und fuhren mit ihm in unbekannte Richtung davon.

Am selben Abend raste eine sensationelle Nachricht um die Welt – der westdeutsche Hobbyflieger Mathias Rust war von einem Sportflughaften in Malmi bei Helsinki in einem gemieteten Leichtflugzeug gestartet und hatte unbemerkt das vermeintlich undurchdringliche sowjetische Flugabwehrsystem durchdrungen, um 850 km weiter im Herzen der Sowjetunion, auf dem Roten Platz, zu landen. „Ein deutscher Junge hat den ‚Eisernen Vorhang’ durchstoßen“ – meldeten die Schlagzeilen der internationalen Presse. Ein Schock für die sowjetische Führung.

Offensichtlich gab es in der sowjetischen Luftverteidigung gewaltige „Löcher“, die ein kleines Flugzeug bequem passieren konnte.

„Säuberung“ im Führungsstab

Man kam nicht mehr an der Erkenntnis vorbei, dass die immensen, in die äußere Sicherheit und Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der sowjetischen Streitkräfte fließenden Summen unwirksam eingesetzt wurden. Eben diese bittere Wahrheit war Gegenstand einer anschließenden außerordentlichen Sitzung des Politbüros der Zentralen Kommission der KPdSU, auf der beschlossen wurde, im Führungsstab der Streitkräfte entschlossen aufzuräumen. Drei Marschalle der Sowjetunion, an die dreihundert Generäle und Oberstleutnante mussten damals ihren Hut nehmen. Betroffen waren auch der Verteidigungsminister der UdSSR, Marschall der Sowjetunion und Befehlshaber der sowjetischen Luftabwehr Alexandr Koldunow. In manchen westlichen Medien sprach man davon, dass es eine solch groß angelegte „Säuberung“ im Führungsstab der sowjetischen Armee seit der Zeit der Stalinschen Repressionen nicht mehr gegeben habe.

Den Leiter des Hauptquartiers der Luftabwehr, General Oberstleutnant Igor Malzew, rettete allein der Umstand, dass er am Tag, als der deutsche Rowdy in den sowjetischen Luftraum eindrang, um schließlich auf dem Roten Platz zu landen, als Abgeordneter des Obersten Rates der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik einer Sitzung des Sowjets in Tallin beiwohnte.

Viele Jahre später, schon außer Dienst, erzählte er, dass ihn damals der KGB-Vorsitzende der Estnischen SSR Karl Kortelajnen aus der Sitzung riefen ließ und ihm mitteilte, dass auf dem Roten Platz ein Flugzeug gelandet war.

„Ich glaubte ihm das nicht“, erinnert sich General Malzew. „Wir fuhren zur Befehlsstelle der Luftabwehr bei Tallin und hörten, was der operative Diensthabende in der Aufklärungszentrale berichtete. Es stellte sich heraus, dass alles so war, wie man mir gesagt hatte. Rust war im estnischen Luftraum auf sowjetisches Territorium vorgedrungen.“

Aber wie konnte ihn das mächtige Luftabwehrsystem, auf das die Führung der Streitkräfte damals so stolz war, durch das halbe Land fliegen lassen?

„Ich kann Ihnen dazu bestimmt nichts Neues sagen“, erklärt mir der General. „Erstens war das weltweit mächtigste Luftabwehrsystem – das sowjetische – auf die Abwehr massierter Luftangriffe auf Objekte und Militäreinheiten in unserem Staatsgebiet ausgerichtet, nicht aber auf die Abwehr von Sportflugzeugen.

Zweitens hatte nach dem Zwischenfall mit der Koreanischen Boing 747 (am 1. September 1983 hatten Abfangjäger der sowjetischen Luftverteidigung ein Passagierflugzeug im Fernen Osten abgeschossen) die UdSSR eine Ergänzung zum Abkommen über die internationale Zivilluftfahrt unterzeichnet, die den Abschuss ziviler Luftfahrtzeuge prinzipiell untersagt, das heißt, unabhängig davon, aus welchem Grund und wohin ein solches Flugzeug geflogen ist. Nach Unterzeichnung dieser Ergänzung setzte der Verteidigungsminister der UdSSR eine Weisung in Kraft, die es verbietet, das Feuer auf Passagier-, Transport- und Leichtflugzeuge zu eröffnen. Daran erinnert aus irgendwelchen Gründen bis heute niemand.

Wirklich ausschlaggebend aber dürfte wohl folgendes Detail sein: Die Funkmessstation beobachtet alle Luftfahrtzeuge, kann aber nur die staatliche oder behördliche Zugehörigkeit jener Flugzeuge erkennen, die mit einem Antwortsender ausgerüstet sind, der „eigen“ und „fremd“ unterscheidet. Die so genannte kleine Luftfahrt, also Leichtmotor-, Sport- und Landwirtschaftsflugzeuge, verfügen über keinen derartigen Antwortsender. Derartige Flugzeuge tauchen täglich in dem von einer Division kontrollierten Bereich zu Dutzenden auf. Rust’s Flugzeug wurde von der Funkmessstation als eines unter vielen anderen erfasst und daher nicht als Eindringling in das staatliche Hoheitsgebiet eingestuft, sondern als ein Luftfahrtzeug, das gegen den vorgesehenen Flugablauf verstößt. Er wurde am 28. Mai um 14.10 Uhr in der Nähe der estnischen Siedlung Loks entdeckt, also bereits auf sowjetischem Hoheitsgebiet. Um 14.18 Uhr stand fest, dass es in diesem Gebiet keinen Verkehr sowjetischer Zivilflugzeuge gab.

Der Befehlshaber der 14. Division der Luftabwehr beschloss, das Flugzeug als ausländisches Flugzeug und Grenzverletzer einzustufen und meldete das umgehend der ihm übergeordneten Kommandostelle der 60. Armee der Luftverteidigung in Leningrad. Alle diensthabenden Kräfte wurden in Bereitschaft Nummer eins versetzt. Ein paar Kampfjets starteten, aber um 14.30 verlor man das Ziel, weil ein lückenloses Radarfeld von 100 Metern nur entlang eines schmalen Grenzstreifens verlief. Dahinter begannen die empfangstoten Zonen. Rust lenkte sein Flugzeug aus irgendeinem Grund durch eben dieses Gebiet.

Um 15.30, man hatte Rust immer noch nicht geortet, gab der Befehlshaber der 60. Armee die Meldung nach Moskau, dass es sich beim Ziel 8255 um einen dichten Vogelschwarm handele. Rust hatte zu diesem Zeitpunkt das Gebiet der Eisenbahnstation Dno erreicht. Man entdeckte ihn schließlich um 18.30 über dem Chodinski-Feld. Um 18.55 landete er.“

Spekulationen über Geheimdienstkontakte

General Malzew bezweifelt, dass Mathias Rust sich selbst seinen Weg durch die Grenze und auf das sowjetische Hoheitsgebiet gebahnt hat, auf dem man ihn nicht aufhalten und identifizieren konnte. Hinweise auf Kontakte des jungen Mannes mit irgendwelchen Geheimdiensten oder NATO-Aufklärern gibt es allerdings nicht. Weder das Ermittlungsverfahren, noch der Prozess, in dessen Ergebnis Rust zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt wurde, konnten einen solchen Zusammenhang nachweisen. Auch Rust selbst, der unlängst anlässlich des „Jubeläums“ seines Skandalflugs wieder im medialen Rampenlicht stand, streitet solche Verbindungen ab.

Viele Experten sind sich darin einig, dass der Generalsekretär der Zentralen Kommission der KPdSU Michail Gorbatschow Rusts Flug dazu nutzte, den konservativen Führungsstab der Streitkräfte radikal zu stutzen. Letztere begegneten seinem Reformkurs, der auf Demokratie, Glasnost und Perestroika zielte, mit Zurückhaltung. Darüber hinaus, so ihre Überzeugung, markierte Rusts Flug den Beginn eines Zerfalls der sowjetischen Streitkräfte und des Landes selbst. Beide Thesen scheinen etwas zu weit zu greifen.

Die Generäle und Marschalle, die die Plätze Sokolows und Koldunows einnahmen, standen ihren Vorgängern in nichts nach. Und der Zerfall der UdSSR und der Armee hatte schon lange vor dem Gastspiel Rusts eingesetzt. Aus vollkommen anderen Gründen. 

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