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Lachen ist gesund: Dmitri Medwedjew in seiner Residenz mit „Comedy-Club“-Darstellern Igor Charlamow und Timur Batrutdinow. Foto: ITAR-TASS

Lachen ist gesund: Dmitri Medwedjew in seiner Residenz mit „Comedy-Club“-Darstellern Igor Charlamow und Timur Batrutdinow. Foto: ITAR-TASS

Im Witzeerzählen sind die Russen Weltmeister: Jahrzehntelang verspotteten sie so das Regime und kommunizierten Tabuthemen. Heute nimmt der Humor andere Formen an.

„Generalsekretär Brewschnew empfängt Margaret Thatcher auf Staatsbesuch. Er faltet seine Rede auseinander und setzt an: ‚Verehrte Indira Ghandi …‘ ‚Genosse Breschnew‘, zischt der Berater, ‚vor Ihnen steht Margaret Thatcher.‘ ‚Ich bin ja nicht blind‘, nuschelt der Generalsekretär zurück, ‚aber im Text steht Indira Ghandi.‘“ 

Das ist ein typischer Witz aus der Sowjetära, in dem der altersschwache Generalsekretär aufs Korn genommen wird. Der Witz – zu Russisch „Anekdot“, von griechisch anékdoton für „nicht publiziert“ abgeleitet – prägte wie der ewige Genosse Breschnew selbst jahrzehntelang die russische Alltagskultur. Scharfsinniges Blödeln, Persiflieren und zum Nachdenken bringen sind die Merkmale der Anekdote, die sich deutlich von ihrem deutschen Schmunzelpendant abhebt.


Die Nachricht als Witz


Kein Wunder: „Der mündliche Witz war die beste Form, Nachrichten zu vermitteln“, erklärt 
Jelena Schmeljowa, Witzeforscherin und Wissenschaftlerin am 
Institut für Russische Sprache der Akademie der Wissenschaften. 


Weil in der Sowjetunion sämtliche Nachrichten gefiltert und viele Themen tabuisiert waren, äußerte das Volk seine Haltungen in Form von politischen Witzen: „Kennst du den schon?“, war eine gängige Begrüßungsfloskel wie „Lange nicht gesehen“ – und zwar querbeet durch alle Klassen der eigentlich klassenlosen Gesellschaft. „Das Alleinstellungsmerkmal der russischen Anekdote ist ihr hoher Status unter den Intellektuellen“, erklärt Schmeljowa. Während in Europa der Witz ein seichter Lacher für zwischendurch war, nahm er in Russland Formen der hohen intellektuellen Unterhaltung an. Und es ging längst nicht mehr nur um Politik.


So wurde in den 60ern die Witzserie über Radio Jerewan populär, eine fiktive Radiostation aus Armenien, die naive Anfragen von Hörern grotesk beantwortete. Das Thema „Sex“ etwa gingen die Moderatoren von Radio Jerewan so an: „Seit Kurzem träume ich in einer unbekannten Fremdsprache, was soll ich tun? – Im Prinzip nichts, oder aber Sie könnten mit einer Dolmetscherin schlafen.“ In diesem Witz wird nicht nur die vermeintliche Überkompetenz von höheren Organen – in diesem Fall Radio Jerewan – persifliert, sondern das in der Sowjetunion aus der Öffentlichkeit verbannte Thema „Sexualität“.


Autor unbekannt


Wer sich die Witze ausgedacht hat, lässt sich nicht genau bestimmen: „Der Witz ist anonym“, sagt Schmeljowa. Im anspruchsvollen Witzereißen übte sich das ganze Land, Arbeiter und Bauern, Kabarettisten und Intellektuelle - die Dichterin Anna Achmatowa beispielsweise war eine leidenschaftliche Witzesammlerin.


Der Wandel kam mit der Perestrojka, als viele Tabus wegfielen und unzählige neue Themen in 
die Öffentlichkeit rückten. Auf einmal witzelte man über Blondinen, Computernerds, Junkies, Sex und die „Neuen Russen“ 
neureiche Gauner und ihre geschmacklose Welt der Statussymbole. „Plötzlich gab es viel zu viel zu lachen“, erklärt Schmeljowa. Nach der prüden Sowjetära mit ihrer Zensur und gähnender Langeweile durften vor allem 
Medien schrill, bunt und lustig werden. Humor wurde zur Arbeitsmethode der Journalisten - und überlagerte sich mit den Doppeldeutigkeiten der alten Sowjetwitze. Ein Grund, warum man als Deutscher die Russen kaum versteht?


Unübersetzbares Erbe


„Die gesellschaftlichen Codes, mit denen sich jeder Ausländer ohnehin schwertut, multiplizierten sich mit unübersetzbarem Sowjeterbe damit haben selbst junge Russen zu kämpfen“, bestätigt Schmeljowa. Etwa im Journalismus. Heute bemühen sich russische Redakteure um möglichst peppige Schlagzeilen, und sogar Qualitätszeitungen wie der Kommersant lockern ihre Berichte mit Allegorien an Witzen, Komödien und Werbespots auf laufen dabei aber häufig auf. „Der Thesaurus der Russen entwickelt sich rasend, die Interessen und Trends wechseln immer schneller“, erklärt Schmeljowa. Was ein 30-jähriger Redakteur zum Brüllen findet, kann der 25-jährige Leser häufig nicht einordnen, weil er die Realien von vor zehn Jahren nicht mehr kennt: „Um heute eine Nachricht zu erzählen, muss man sie nicht mehr in Witze umkodieren. Eine Nachricht ist einfach nur noch eine Nachricht.“


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Mit anderen Worten: Qualitatives Witzeerzählen ist aus der Mode gekommen. Wer lachen will, schaltet auf Comedy im Fernsehen oder schaut sich im Internet Photoshop-Parodien und Kurzvideos an. Witze werden weniger häufig mündlich vorgetragen, einen festen Platz haben sie dagegen in Boulevardgazetten oder auf Internetforen. Die „nicht publizierte“ Anekdote hat schriftliche Form angenommen – und ihre ursprüngliche Scharfsinnigkeit eingebüßt. „Irgendwann sinken unsere Witze auf das gleiche Niveau wie die 
europäischen“, sagt die Witzeforscherin. „Und ich finde das ein wenig schade.“

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