Wie viel wird das russische Team (hier 2010) bei der EM 2012 zu feiern haben? Foto: Getty Images/ Fotobank
Es sind ja nur fünf Spiele bis zum Finale. Warum sollte die russische Nationalmannschaft nicht einfach mal fünf Spiele in Folge gewinnen? Oder zumindest drei bis vier, was auch reichen könnte? Das muss sich Trainer Dick Advocaat gedacht haben, als er Mitte Mai in Moskau vor die Presse trat und verkündete: „Russlands Ziel bei der EM ist das Finale.“
Daran war eigentlich nichts Sensationelles: Was soll sich der EM-Dritte von 2008 auch anderes
vornehmen, als sein damaliges Resultat zu übertreffen? Russland, Elfter der FIFA-Weltrangliste, müsste dazu nicht nur seiner Favoritenrolle in einer Gruppe mit Polen, Griechenland und Tschechien gerecht werden, sondern auch Titelanwärtern wie Deutschland und Spanien auf Augenhöhe begegnen. Dagegen spricht allerdings, dass praktisch nichts dafür spricht. Auch nicht der Trainer, der den Russen systematisch das Träumen abgewöhnt hat.
Der nüchterne Advocaat
Der Holländer übernahm den Trainerjob vor zwei Jahren von seinem Landsmann Guus Hiddink. Unter Hiddink hatte Russland ansehnlichen, an guten Tagen gar herzerfrischenden Offensivfußball gespielt. Mit Andrej Arschawin von Zenit St. Petersburg im Mittelfeld wäre die spürbar verjüngte Mannschaft in der letzten EM-2008-Qualifikation zwar fast gescheitert, doch dann schoss Gruppensieger Kroatien am letzten Spieltag England aus der Qualifikation - Russland war dabei. Ein Wunder, jubelten die Russen, die sonst so oft mit dem Schicksal hadern und denen Hiddink fortan als Glücksbringer galt.
8.Juni, 20.45 Uhr: Russland-Tschechien
12.Juni, 20.45 Uhr: Polen-Russland
16.Juni, 20.45 Uhr: Griechenland-Russland
Auf Deutschland könnte Russland im Viertelfinale treffen - oder aber im Finale.
Bei der EM 2008 steigerte sich die „Sbornaja“ von Spiel zu Spiel und warf im Viertelfinale die hoch gehandelten Holländer aus dem Wettbewerb. Mehr noch: Russland war das bessere Holland – leichtfüßig, trickreich, druckvoll. Die Experten rieben sich die Augen, Europa feierte die Entdeckung des Turniers. In der Heimat berauschte sich die geschundene postsowjetische Seele an diesem Triumph. Hunderttausende zogen mitten in der Nacht freudetrunken durch die Straßen, in den Großstädten sowieso, aber auch in der tiefsten Provinz. Kommentatoren suchten lange nach historischen Parallelen, viel mehr als Gagarins Weltraumflug fiel ihnen nicht ein.
Ein paar Tage später ging das Halbfinale gegen den späteren Europameister Spanien mit 0:3 verloren. Das war ernüchternd, aber nach so viel Glanz und Glorie verzeihlich. Die Mannschaft rappelte sich wieder auf und knüpfte in der WM-Qualifikation an ihre starke Leistung an.
In der Abwärtsspirale
Der Wendepunkt war eine 0:1-Heimniederlage gegen Deutschland im Herbst 2009. Russland verspielte erst den Gruppensieg und in der Relegation gegen Slowenien die WM-Fahrkarte. Die Euphorie war innerhalb weniger Wochen verflogen. Und plötzlich wurde darüber diskutiert, dass dieser hochbezahlte Sympathieträger Hiddink mehr Zeit in Holland verbrachte als in Russland. Hiddink ging, es kam Advocaat, der 2007 mit Zenit St. Petersburg die russische Meisterschaft und den UEFA-Cup gewonnen hatte. Advocaat versachlichte den Fußball der Russen: Maßstab aller Dinge sei der Einzug in die EM-Endrunde. Diese Mission hat er erfüllt, Russland wurde Gruppenerster vor Irland, Armenien und der Slowakei, ohne freilich zu überzeugen oder zu begeistern. Mit 17 Toren in zehn Spielen schossen die Russen halb so viele Tore wie Deutschland in seiner Gruppe.
Auf Kritik reagierten Trainer und Mannschaft zunehmend dünnhäutig - und verwiesen auf den Erfolg ihres Minimalismus. Wurden die Vorwürfe besonders deftig, wie nach den Testspielpleiten gegen Belgien (0:2) und den Iran (0:1), revanchierten sich die Spieler, indem sie die Medien einfach ignorierten. Statt Optimismus und Enthusiasmus macht sich so vor der Europameisterschaft Katerstimmung breit. „Advocaat erzeugt schon mit seinem Charakter keine positiven Emotionen“, maulte die Nachrichtenagentur RIA Nowosti. Dabei habe die russische Mannschaft einen „emotionalen Kick“ bitter nötig, sekundierte die Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta.
Advocaat leistete sich derweil eine neue Instinktlosigkeit: Sein EM-Aufgebot stellte er nicht selbst vor, sondern ließ es vom Fußballverband veröffentlichen. Russischen Journalisten stand er an diesem Tag für Nachfragen nicht zur Verfügung, weil er in Holland erklärte, warum er nach der EM Trainer beim PSV Eindhoven wird.
Der Kader hat sich im Vergleich zu 2008 nur geringfügig verändert: Mit Ausnahme von Torjäger Alexander Kerschakow und Abräumer Igor Denisow (beide Zenit) setzt Advocaat auf dieselben Leistungsträger wie sein Vorgänger. Das hat auch damit zu tun, dass es trotz hoher Investitionen in Trainingszentren an geeignetem Nachwuchs fehlt.
Das Finale des Rentnerteams
Russland schickt also nicht nur eine Omi-Band zum Eurovision Song Contest, es fährt auch mit einer Mannschaft kurz vor der Verrentung zur EM. Das ist umso erstaunlicher, als keiner von den Helden der letzten EM seine Leistung gesteigert hat. Vier von fünf Spielern, die ins Ausland wechselten, sind inzwischen nach Russland zurückgekehrt: Andrej
Arschawin (31, Arsenal London), Roman Pawljutschenko (30, Tottenham Hotspur), Juri Schirkow (28, FC Chelsea) und Dinijar Biljaletdinow (27, FC Everton) saßen bei ihren englischen Klubs zuletzt nur noch auf der Bank. Pawel
Pogrebnjak (28) versucht nach einem Intermezzo beim VfB Stuttgart neuerdings beim FC Fulham sein Glück.
Beim Testspiel in Dänemark Ende Februar lag das Durchschnittsalter der russischen Elf bei stolzen 28,8 Jahren (Deutschland: 24,4 Jahre). Vielleicht rafft sich die Generation Arschawin, des Taktgebers zwischen Genie und Wahnsinn, ja doch noch einmal zu einem großen Finale auf. Zumindest zum Finale der eigenen Karriere.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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