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Zehntausend Tote sind offensichtlich zu wenig. In dieser Größenordnung bewegen sich derzeit konservative Schätzungen der Opfer des Blutvergießens. Ich wüsste also gerne, wie viele Menschen noch sterben müssen?
Politiker, Diplomaten und Journalisten reagierten sichtlich erregt, als Russland und China sich der Erklärung des UN-Sicherheitsrates anschlossen, mit der das Massaker im syrischen Hula geächtet wurde. „Moskau rückt von seinem Kurs der bedingungslosen Unterstützung des Assad-Regimes ab!" – lautete das Medienecho. Viele griffen vor allem die Worte des russischen Außenministers Sergej Lawrows auf, der davon sprach, dass das Schicksal Assads nicht so wichtig sei, wie ein Ende der Gewalt. Tatsächlich aber ändert das alles bisher grundsätzlich nichts. Russische Diplomaten und Politiker ergehen sich weiter in Behauptungen, es seien „insgesamt nur“ einige Bewohner des Dorfes Hula einem Artilleriebeschuss durch Militärs der Regierung zum Opfer gefallen, den übrigen hätten sogenannte „Terroristen“ den Garaus gemacht. Um Beweise für diese Mutmaßungen jedoch bemühen sie sich nicht. Ich möchte meine Frage präzisieren: „Was ist die Norm für das Töten von Zivilisten durch Artilleriebeschuss?“ Können wir etwa sagen – fünfzehn Menschen sind zulässig, sechzehn dagegen sprengen das Maß?
In Moskau wiederholt man wie ein Mantra die Propaganda des Assad-Regimes. Die Bewohner von Hula dagegen berichten, sie seien von Schabiha-Milizen angegriffen worden, quasi-militärischen Gruppierungen des Regimes, die für eine Einschüchterung der Opposition sorgen sollen. Diese Zeugenaussagen werden einfach weggewischt. Thesen über „ausländische Terroristen“, die angeblich auf gleicher Augenhöhe gegen die reguläre Armee kämpfen, werden von Regierungsbeamten und ihren medialen Sprachrohren unablässig breitgetreten. „In Syrien ergreifen Fanatiker die Macht!" - erklären sie. Dabei scheint es sie durchaus nicht zu irritieren, dass Moskau sich beharrlich weigert, wirkliche Terroristen der palästinensischen Hamas-Bewegung oder der Hisbollah im Libanon als Terroristen zu bezeichnen.
Dass heute in den Reihen der Freien syrischen Armee Vertreter unterschiedlicher Weltanschauungen kämpfen, einschließlich Islamisten, kann nicht verwundern. Dass sie sich der regulären Armee mit Panzern, Waffen und Luftstreitkräften entgegenstellen, ist ebenfalls klar. Dass die Kräfte ungleich verteilt sind und die Regierung hier eindeutig die größere Verantwortung trägt, dürfte dem gesunden Verstand unmittelbar einleuchten. Dass Assad bereits unzählige Chancen hat verstreichen lassen, dem Blutvergießen ein Ende zu bereiten und Wege der politischen Konfliktlösung zu beschreiten, steht außer Frage. Und dass er nicht die Absicht hat, dieses zu tun, wird immer deutlicher.
Moment der Wahrheit für den Kreml
Es kommt der Moment der Wahrheit. Der Kreml muss entscheiden, ob er seinem letzten Nahost-Verbündeten bis zum bitteren Ende zur Seite stehen möchte. Weniger um der Waffenverträge oder der Militärbasis in Tartus willen, als um der Welt sein eigenes Verständnis von Souveränität aufzuzwingen: als einer unbefristeten Lizenz für politische Willkür.
Der Westen wird eine Antwort finden müssen auf die Frage, die unvermeidlich in der Arabischen Welt – und nicht nur – dort gestellt wird: „Was unterscheidet die Willkür à la Muammar al-Gadaffi von der Willkür Baschar al-Assads?“ Eine Erklärung, warum Lybien einer Intervention durch ein internationales Bündnis für würdig befunden wurde, Syrien aber nicht, steht nämlich noch aus.
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