Streik beim Autozulieferer Benteler in Kaluga - zwei Tage später begannen die Verhandlungen. Foto: Pressebild
Im Gewerkschaftsbüro in der Stadt Kaluga geht es ruppig zu an diesem Tag im Mai: Eine sechsköpfige Einsatzgruppe aus Polizei und Kreiswehramt steht in dem 20 Quadratmeter kleinen Raum einer Gruppe von Gewerkschaftern gegenüber: Die Ordnungshüter wollen ein Mitglied zum Armeedienst abholen. „Zum Teufel mit euch“, schimpft Dmitrij Koschnjew, als sie versuchen, die Männer mit Gewalt fortzudrängen. Der Versuch scheitert, Minuten später erscheint die Anwältin des jungen Mannes und erklärt den Staatsvertretern, dass sie keine rechtliche Handhabe hätten, weil vor Gericht ein Verfahren über die Wehrfähigkeit des Mannes laufe.
Erster Streik bei Ford
Büroleiter Koschnjew bringt die Attacke mit dem jüngsten Streik in Verbindung: „Die regionalen Eliten fürchten sich davor, dass die Arbeiter sich organisieren.“ Die Geburtsstunde der MPRA, jener Gewerkschaft, die für so viel Wirbel sorgt, liegt sechs Jahre zurück: In der Nähe von Sankt
Petersburg bestreikte die neu gebildete „Überregionale Gewerkschaft der Beschäftigten in der Automobilindustrie“ damals das Werk des US-Autobauers Ford und erreichte eine Anhebung der Löhne um bis zu 21 Prozent. Es war der erste bedeutende Streik in der neueren russischen Geschichte. Denn die aus der UdSSR übrig gebliebenen Gewerkschaften haben zwar zum Teil mehrere Millionen Mitglieder, gehen aber - wie zu Sowjetzeiten - vor allem sozialen Aufgaben nach.
Die MPRA hat sich seitdem ausgebreitet, insbesondere bei westlichen Autobauern. In Kaluga, wo über die letzten Jahre VW, Volvo, Peugeot und Zulieferer wie Benteler Fabriken aufbauten, hat sie über 1300 Mitglieder.
Aber warum ist die MPRA vor allem bei westlichen Konzernen aktiv? Nach Meinung von Boris Titow, Chef des Unternehmerverbandes Delowaja Rossija, finden Streiks gerade in transparenten, sozial verantwortungsvollen Unternehmen statt, die um ihr Image besorgt sind: „Die Arbeitsbedingungen sind eigentlich annehmbar, aber man kann sie leichter zu Zugeständnissen bewegen.“
„In neuen Unternehmen ist der Zulauf zu den Gewerkschaften größer, weil die Belegschaft aus jungen, motivierten Mitarbeitern besteht“, erklärt MPRA-Vertreter Koschnjew. Er hat, damals noch Dreher, versucht, in seiner Fa-
brik in Twer die MPRA zu etablieren. Und erlebte Repressionen, die sich ein westlicher Konzern nicht leisten könnte. Am Ende wurde er entlassen. Beim VW-Zulieferer Benteler läuft es anders: Im November traten die ersten Beschäftigten der MPRA bei, Ende März forderten die Gewerkschafter die Geschäftsführung auf, einen neuen Tarifvertrag auszuhandeln. Benteler ignorierte den Aufruf - und erntete einen Streik. Zwei Tage lang legte MPRA die Produktion lahm, dann knickte das Unternehmen ein.
Nun wird verhandelt, über einen Forderungskatalog von 100 Punkten, darunter Lohnerhöhungen um 40 Prozent. Derzeit beträgt das Einstiegsgehalt 400 Euro, die höchste Gehaltsstufe für einfache Arbeiter liegt bei 550 Euro. „Die verkaufen ihre Autos hier zu denselben Preisen wie in Europa, also stehen uns auch dieselben Löhne zu“, erklärt der 22-jährige Alexej Nastin, der bei Benteler die Gewerkschaftsgruppe leitet.
Kein Bonus für die Streikenden
Benteler will sich zum Streik nicht äußern. Von Mitarbeitern vor Ort hört man allerdings, dass die Firmenleitung den Gegner wohl unterschätzt habe. VW dagegen hat Konsequenzen aus dem Streik bei seinem Zulieferer gezogen: Hier wird seit einigen Wochen mit der MPRA über einen Tarifvertrag verhandelt.
Allerdings stehen die Gewerkschafter unter Druck: Benteler strich erst der gesamten Belegschaft den Bonus für März - und zahlte dann jenen, die nicht am Streik teilgenommen hatten, eine doppelte Prämie. Die MPRA hat dagegen Klage eingereicht. Und Benteler-Mitarbeiter Nastin berichtet von Versuchen, einen Keil zwischen Arbeiter und MPRA zu treiben: „Den Arbeitern werden bessere Karriereaussichten versprochen, wenn sie aus der Gewerkschaft austreten.“
Das große Problem von boomenden, aber dünn besiedelten Regionen wie Kaluga ist der Fachkräftemangel. Schon jetzt bringen jeden Tag firmeneigene Kleinbusse Hunderte Mitarbeiter aus weiter entfernt gelegenen Dörfern zum VW-Werk.
Die Situation wird sich in den nächsten Jahren noch verschärfen: Der Reifenhersteller Continental etwa baut gerade nahe Kaluga ein neues Werk, in dem 400 neue Stellen geschaffen werden. Denn die Nachfrage nach Autos steigt in Russland weiterhin, und zwar zweistellig. Dieser Trend spielt der MPRA in die Hände: Anfang Juni soll wieder gestreikt werden - und wieder bei Ford.
Etwa 30 Millionen Russen sind Gewerkschaftsmitglieder. Die meisten Organisationen sind allerdings staatsnahe Überbleibsel aus der Sowjetunion und spielen eine ähnliche Rolle wie damals: Sie verteilen Urlaubsreisen an die Arbeiter und organisieren zu jedem 1. Mai eine Demonstration. Zu Konfrontationen mit den Arbeitgebern sind sie nur selten bereit und spielten auch während der jüngsten Wirtschaftskrise keine Rolle.
Zu Konflikten kam es erst durch spontane Proteste von Arbeitern. Entsprechend gering ist das Vertrauen der Russen in die Gewerkschaften. Neue, unabhängige Organisationen wie die MPRA kämpfen mit gesetzlichen Einschränkungen: Eine Gewerkschaft wird nur dann als Verhandlungspartner akzeptiert, wenn sie mindestens 50 Prozent der Belegschaft hinter sich hat.
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