Fußball-EM: Nachlassendes Nationalgefühl bei Russen

Foto: ITAR-TASS

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Den Russen geht zunehmend der Patriotismus verloren. Das hat das Forschungsinstitut Lewada-Zentrum kurz vor der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine und Polen ermittelt.

Experten mussten feststellen, dass nicht alle Russen mit ihrer Sbornaja mitfiebern. Man könnte diesen Trend wohl als eine Eigenart der heutigen Fans betrachten, die für Russen nicht typisch ist. Aber unmittelbar nach dieser Studie wurden die Ergebnisse einer anderen Umfrage veröffentlicht, der zufolge die Zahl der Menschen, die gerne auswandern würden, in den vergangenen drei Jahren um nahezu 50 Prozent gestiegen ist.

Obwohl derartige Umfragen ziemlich häufig durchgeführt werden, sind die aktuellen Ergebnisse frappierend. Experten zufolge ist das ein indirekter Beweis für die Probleme, die die russische Gesellschaft plagen.

Stimmungsschwankungen


Vor drei Jahren hatten nur 13 Prozent der Russen an eine Emigration gedacht. Jetzt ist diese Zahl auf 20 Prozent gestiegen. Die Zahl derjenigen, die nicht auswandern wollen, ist gleichzeitig von 80 auf 73 Prozent zurückgegangen.

Experten räumen allerdings ein, dass solche Studien nicht die wahren Pläne der Bürger widerspiegeln. Oft sagen Menschen, sie würden gerne emigrieren, haben jedoch keine klare Vorstellung, wo sie leben und was sie dort machen sollen. 

„Das Thema Auswanderung ist mit der Stimmung in der Gesellschaft verbunden“, findet der Leiter der Stiftung „Öffentliche Meinung“, Alexander Oslon. Die Antworten der Umfrageteilnehmer lassen sich häufig auf Umstände wie Wetter, familiäre Beziehungen, Gesundheitszustand und Einkommensniveau zurückführen. Die politische Situation im Land habe damit normalerweise nichts zu tun, so der Experte.

Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Auswanderungslust der Russen durch ihre Unzufriedenheit mit der allgemeinen Situation im Land bedingt ist. „Die Menschen haben Angst vor Investitionen in Russland. Sie fühlen sich ungeschützt und haben Angst um ihr Eigentum“, erklärt der Chefanalytiker des Lewada-Zentrums, Lew Gudkow. „Sie begründen ihre Absichten ganz unterschiedlich und behaupten, sie würden auswandern, weil sie sich Sorgen um ihre Kinder machen – damit diese eine bessere Zukunft haben und nicht den Wehrdienst in Russland leisten müssen.“

Laut dem WZIOM - Meinungsforschungsinstitut, ist die Auswanderungslust der Russen in letzter Zeit eher instabil. Besonders markant waren diese Stimmungsschwankungen zwischen Juni 2011 und März 2012. In dieser Zeit soll die Zahl der Bürger, die an eine Emigration dachten, von 22 auf elf Prozent geschrumpft sein. Damals erklärten Experten diesen Sinneswandel durch die bürgerlichen Aktivitäten im Dezember 2011 und die Hoffnungen der kreativen Gesellschaftsschicht auf eine bessere Zukunft.

Jetzt denken die Russen aber wieder immer häufiger an das Auswandern. Laut dem Lewada-Zentrum wollen drei Prozent der Befragten ihre Heimat verlassen.

Jeder vierte


Jeder vierte Russe wird während der Fußball-EM nicht mit der eigenen Nationalelf mitfiebern. Das ergab die jüngste WZIOM-Studie, deren Ergebnisse am 7. Juni veröffentlicht wurden. Die Sympathien der Fans gehören vor allem den Teams aus Spanien (neun Prozent), Deutschland (acht Prozent), Italien und der Ukraine (jeweils sieben Prozent).

Das könnte indirekt mit der Proteststimmung in der russischen Gesellschaft zusammenhängen, meint die Sozialpsychologin Olga Machowskaja. „Besonders oft wollen Frauen auswandern. Sie haben die meisten Gründe dafür: die schwierige demografische Situation in Russland und mangelhafte Perspektiven für eine erfolgreiche Karriere. Dabei können sie sich leichter als Männer an neue Lebensbedingungen anpassen. Die meisten Fußballfans sind aber Männer. Das bedeutet, dass Männer und Frauen ihre Proteststimmung unterschiedlich ausdrücken“, so die Expertin.

Auch Lew Gudkow sieht eine Verbindung zwischen der Auswanderungslust und der Unlust, das eigene Nationalteam zu unterstützen. Nach seiner Auffassung gehören beide Erscheinungen aus der Sicht des Patriotismus und des nationalen  Zusammenhalts zusammen. „Der Fußball ist aber kein Krieg, und es gib dabei keine totale Spaltung in Freunde und Feinde. Es ist normal, dass einige Menschen eine Mannschaft unterstützen, die einfach besser Fußball spielt“, räumt er ein.

Dieser Auffassung können die Fans, die nach Polen gereist sind, um die russische Mannschaft zu unterstützen, nicht zustimmen. Für sie ist die Europameisterschaft doch eine Art Krieg. Sie wollen die Siege ihres Teams unmittelbar miterleben. Die neuesten Nachrichten aus Warschau beweisen deutlich, dass die Russen, die ihre Nationalmannschaft begleiten, keine Probleme mit dem Patriotismus haben. Nach dem Spiel am Dienstagabend gegen den Gastgeber Polen wurden mehrere russische Fans nach Zusammenstößen mit den polnischen Anhängern festgenommen.

Nicht nur Russlands Problem


Doch zeigt sich die "Untreue" der eigenen Nationalmannschaft gegenüber auch in anderen Ländern? Eine Analyse englischsprachiger Internet-Fußballforen zeigt, dass diese Erscheinung nicht nur für Russland typisch ist. Dabei haben die Fans ganz konkrete Gründe, mit fremden Teams mitzufiebern: Meine Mannschaft hat die EM-Endrunde nicht einmal erreicht, ich bin kein gebürtiger Engländer und meine Familie stammt aus einem anderen Land, ich mag die Spieler meines Nationalteams nicht, weil sie überbezahlte skandalsüchtige Faulenzer sind, die ihr Geld nicht wert sind.

Auffallend ist die Meinung vieler Fans, dass die Engländer schlechte Patrioten seien und, dass nur sie andere Mannschaften außer ihrer eigenen unterstützen. In die Debatte mischte sich aber sofort ein Portugiese ein, der behauptete, seine Mitbürger hätten gar kein Interesse für ihr Nationalteam, weil dort viele eingebürgerte Brasilianer spielen und weil der Nationaltrainer eigenartige Vorzüge habe, die sich viele Portugiesen nicht gefallen lassen.

Deshalb ist Russland in diesem Sinne keine Ausnahme. Es hat jedoch seine Besonderheiten: Sportliche Erfolge wurden und werden in der Sowjetunion beziehungsweise in Russland von den Behörden als Element der politischen Propaganda genutzt, stellt Olga Machowskaja fest. „Die Sportler spielen oft eine wichtige Agitationsrolle und die Menschen verstehen, dass Sportteams gut finanziert werden. Die Menschen mögen den Sport, akzeptieren aber nicht die damit verbundenen politischen Intrigen“, betont sie.

In Bezug auf die allgemeine Situation sagt Machowskaja, dass die Ergebnisse der WZIOM-Studie eher enttäuschend seien, selbst wenn an den Sympathien der Fußballfans nichts Unpatriotisches sei. Denn historisch haben die Russen schon immer ihre Nationalmannschaften in verschiedenen Sportarten unterstützt.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei RIA Novosti

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