Fotograf Michael Kerstgens vor seinem Foto von Wladimir Kaminer. Foto: Angelika Kettelhack
In drei unterschiedlichen Epochen fotografierte Michael Kerstgens, auch im Auftrag des Jüdischen Museums, vor allem in Berlin, das seit der Wiedervereinigung die größte und weiterhin noch ständig wachsende Jüdische Gemeinde in Deutschland aufzuweisen hat. Und die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion wird so schnell nicht abreißen. Der Fotograf beschäftigt sich mit den sozialen und religiösen Herausforderungen der Jüdischen Gemeinden und lässt dabei auch die oft schwierige Situation zwischen den in die Minderzahl geratenen „Alteingesessenen“ und den über 200.000 russischen Zuwanderern nicht ausser Acht.
Die Bilder erzählen vom Abschied und Neubeginn, vom Ankommen und Bleiben, der mancherorts desaströsen Unterbringung in Übergangsheimen wie auch vom schnellen Erfolg, und in jedem Fall von der Suche nach Zugehörigkeit und dem Erlernen von religiöser Tradition und deutscher Sprache. Zu den neuen Veränderungen gehören zum Beispiel die am christlichen Brauch orientierten Hochzeiten in Weiß mit Vorfahrt in weißer Kutsche - wie etwa vor der liberalen Synagoge in der Pestalozzistraße oder die pompösen Grabstein-Dekorationen auf dem jüdischen Friedhof an der Heerstrasse - beide in Berlin-Charlottenburg gelegen, das schon in den 20er Jahren als „Charlottengrad“ bezeichnet wurde.
Michael Kerstgens, der sich mit seinen Fotoreportagen in den Zeitschriften „Stern“ und „Geo“ in den neunziger Jahren einen Namen machte, erklärte bei der Ausstellungs-Eröffnung, die in einem schlauchartigen Saal im hintersten Winkel des Jüdischen Museums kurz
Das erste russische Museum für die Geschichte des jüdischen Volkes wurde in Moskau eröffnet
vor dem sogenannten „Void“ stattfand, vor mehr als 350 Besuchern (wahrscheinlich hatte man nicht mit einem solchen Andrang gerechnet) seine Arbeitsweise folgendermaßen: „Da ich mit meiner Körpergröße von 1,93 Meter als Fotograf niemals unauffällig bleiben kann, bewege ich mich immer wie ein Tänzer durch den Raum, um mich den vorhandenen Situationen anzunähern. Ich muss zuallererst Vertrauen aufbauen. Deshalb fotografiere ich von jeher mit einer kleinen Leica, wie irgendjemand, der auch mal gerade ein Foto macht. Das fällt natürlich heutzutage umso weniger auf, wo jeder mit dem Handy alles fotografieren kann.“
Aber Kerstgens arbeitet, wie er berichtet, weiterhin meistens mit einer viertel oder halben Sekunde Belichtungszeit ohne Blitzlicht. Anfang der 90er Jahre, zur Zeit der Wende, porträtierte er die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde.
Kantor Estrongo Nachama in den 90er Jahren. Foto: Michael Kerstgens
Um 2000 herum dann die russischen Einwanderer.*** „Heute zwanzig, beziehungsweise zehn, Jahre später“, sagt der Langzeitbeobachter, fällt mir der Auftrag als Chronist des Jüdischen Museums leichter. Denn die Fotografierten und ich, wir erkennen uns wieder wie alte Bekannte. Nur eine Familie wollte sich nicht noch ein Mal fotografieren lassen, weil ihr Träume sich nicht erfüllt hatten“.
Aber die Familie Troitschanski / Troychanskiy ist ein gutes Beispiel für den Erfolg der russischen Einwanderer. Mikhail und Galina Troitschanski emigrierten 1990 von Moskau nach Berlin. Religiöse Motive waren für sie weniger wichtig als die Hoffnung auf bessere Ausbildungsmöglichkeiten für ihre Kinder.
Mikhail Troitschanski (links). Foto: Michael Kerstgens
Der Diplom-Ingenieur Mikhail verkauft in Deutschland zunächst gebrauchte Autos und wird über den Import-Export-Handel später zu einem überaus erfolgreichen Unternehmer. Die drei Kinder werden in Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde erzogen und das daraus erwachsende jüdische Bewusstsein weckt in der Familie Zweifel, ob gerade Deutschland mit seiner schrecklichen Geschichte das richtige Land für sie ist. Sie beantragen die kanadische Staatsbürgerschaft. Heute leben sie in Richmond Hill, einem jüdisch-konservativen Vorort von Toronto. Hier hat der Chronist die Troitschanski nach langem Suchen, als weiterhin erfolgreichen Unternehmer-Clan wiederentdeckt.
Als bestes Beispiel der Integration wird immer Wladimir Kaminer genannt, der junge, unkonventionelle Schriftsteller aus Moskau, der für seine Dichterlesungen und für das Auflegen russischer Popmusik mit seiner „Russendisko“ weltberühmt wurde. Er ist in der neuen Generation der Zuwanderer ein ebenbürtiger Nachfolger des „alteingesessenen“ Filmproduzenten Atze Brauner mit seinen Produktions-Studios an der Havel in Spandau.
Filmproduzent Atze Brauner und Ehefrau. Foto: Michael Kerstgens
*** Im Kontingentflüchtlingsgesetz vom 9. Januar 1991 heißt es: Alle Personen, die laut russischer Dokumente jüdisch waren, sowie deren nichtjüdischen Familienangehörige, konnten entsprechende Anträge stellen und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erwerben.
Informationen zur Ausstellung finden Sie hier.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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