Insgesamt wurden 2011 mehr als 3000 russische Waisenkinder von Ausländern aufgenommen. Foto: ITAR-TASS
Rechtsanwalt Anton Scharow, Mitarbeiter der Pflegeeltern-Schule des Wohltätigkeitsfonds „Semja“ („Familie“), berichtet von einer durchaus typischen Geschichte: Ein Ehepaar wollte einen drei Monate alten Säugling adoptieren, der zuvor bereits von drei potentiellen Adoptiveltern wegen seiner vermeintlichen schweren Krankheiten – darunter Hepatitis – abgelehnt worden war. Da die Familie den Kleinen aber ins Herz geschlossen hatte, wagte sie dennoch die Adoption. Laboruntersuchungen ergaben, dass der Säugling weder an Hepatitis noch an irgendeiner der anderen in den Unterlagen aufgeführten Krankheiten litt. Das Pflegepersonal des Heims räumte später ein, dass man das Kind für eine Auslandsadoption vorbereitet habe.
In vielen Regionen Russlands gibt es lange Wartelisten für die Adoption von Säuglingen. Ausländische Vermittlungsagenturen kommen hingegen häufig schneller zum Zug.
Laut offiziellen Angaben der Internetseite des zuständigen US-Departements adoptierten Amerikaner im Jahr 2011 insgesamt 970 Kinder aus der Russischen Föderation. Diese belegt damit als „Adoptionsland“ für die Vereinigten Staaten Platz drei hinter China (2589 Adoptionen) und Äthiopien (1727 Adoptionen). Insgesamt wurden im vergangenen Jahr mehr als 3000 russische Waisenkinder von Ausländern aufgenommen.
Auslandsadoptionen: Ein lukratives Geschäft
Die Mitarbeiter von Kinderheimen erhalten seit einigen Jahren beachtliche Gehaltszuschläge, wenn sie kranke Kinder betreuen. Nicht selten werden den Schützlingen aus diesem Grund entsprechende „Diagnosen“ angedichtet. Es gibt aber noch eine weitere wichtige Ursache für die üppigen Krankenakten etlicher Heimkinder: Auslandsadoptionen. Die Gesetzgebung der Russischen Föderation verlangt, dass zunächst fünf potenzielle Adoptiveltern im Inland das betreffende Kind abgelehnt haben müssen, bevor eine Auslandsadoption erfolgen darf. Dies lässt sich natürlich umso leichter erreichen, je mehr abschreckende „Diagnosen“ die Krankenakte des Kindes enthält.
Hierzu muss man wissen, dass eine Adoption für die Bürger der Russischen Föderation kostenlos ist, während Ausländer viel Geld dafür bezahlen. Michail Pimenow, Direktor von „Semja“, schildert, dass ein Bekannter aus den USA 25.000 Dollar für die Adoption eines russischen Kindes entrichten musste. „Ich bin überzeugt, dass die internationalen Adoptionen erheblich zu Lasten der inländischen gehen. Deshalb sollten meiner Meinung nach Ausländer nur Kinder adoptieren dürfen, die wirklich krank sind und denen wir hier nicht helfen können“, erklärt Pimenow.
Putin-Erlass soll internationale Adoptionen reduzieren
Anfang Juni unterzeichnete Präsident Wladimir Putin den Erlass „Über die nationale Handlungsstrategie im Interesse der Kinder“. Dessen wichtigster Grundsatz besagt, dass jedes Kind das Recht habe, in einer Familie aufzuwachsen und, dass es die Pflicht des Staates sei, dieses Recht zu gewährleisten. Deshalb wurde beschlossen, die Anzahl der Kinderheime drastisch zu reduzieren und 90 Prozent der Waisenkinder im Rahmen verschiedener Formen der Betreuung und Vormundschaft in Familien unterzubringen.
Der Erlass enthält aber noch eine weitere wichtige Zielsetzung, wonach internationale Adoptionen schrittweise zu reduzieren sind. Russlands Waisen sollen also bevorzugt von Bürgern des eigenen Landes adoptiert werden. Zum ersten Mal wird dieses Prinzip damit offiziell und auf so hoher politischer Ebene deklariert.
Damit trägt die Regierung einem Trend Rechnung, der in der russischen Gesellschaft ohnehin spürbar ist. Gab es beispielsweise im Jahr 2005 in der Region Krasnodar ganze 25 Pflegefamilien, so sind es heute mehr als 2000. Das ist darauf zurückzuführen, dass sich die Einstellung vieler Russen zu diesem Thema geändert hat. So griffen Fernsehbeiträge das Thema Adoption auf, regionale Verwaltungen und Behörden hielten selbst – beispielsweise unter kinderlosen Ehepaaren – Ausschau nach potenziellen Pflege- und Adoptiveltern und luden sie in die örtlichen Heime ein. Mit dem Ergebnis, dass heute neun von zehn Waisenkinder in der Region Krasnodar in Familien untergebracht werden. Der Staat fördert diesen Prozess auch materiell. Die Adoption eines behinderten Kindes wird mit umgerechnet bis zu 12 000 Euro unterstützt. Ebenso erhalten Pflege- und Adoptiveltern monatliche Zuschüsse.
In der Industriestadt Tscherepowez gab es 2006 neun Kinderheime mit 300 000 belegten Plätzen. Das hatten einen rasanten Anstieg der Jugendkriminalität zur Folge. Die Stadtverwaltung gelangte zu der Erkenntnis, dass der Lösungsansatz für dieses Problem vornehmlich in einer Stärkung der Familienbindung liegen müsse. So entstand der Wohltätigkeitsfonds „Doroga k domu“ („Der Weg nach Hause“), der als erste Maßnahme eine Schule für potenzielle Pflege- und Adoptiveltern ins Leben rief. Einige Zeit später konnten vier Kinderheime geschlossen werden und seither gab es auch keinen einzigen Fall mehr, in dem ein Kind aus einer Pflege- oder Adoptivfamilie „zurückgegeben“ werden musste.
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