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Olga Kryschtanowskaja, Leiterin des Zentrums für Elitenforschung an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Foto: aus dem persönlichen Archiv |
— In Ihrem 2005 erschienenen Buch „Anatomie der russischen Elite“ nehmen Sie die heutige politische Elite sehr kritisch unter die Lupe. Was veranlasste Sie vier Jahre später dazu in die Partei Einiges Russland einzutreten?
— Ich habe mich nie als Kritikerin des Systems verstanden. Als Soziologin habe ich lediglich bestimmte Erscheinungen analysiert, auf eine Bewertung dabei aber verzichtet. Mitglied der Partei Einiges Russland wurde ich aus dem einfachen Grund, dass ich mich in der Politik versuchen wollte. Ich möchte ehrlich sein – zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, für welche Partei ich mich entscheiden soll. Ich habe darüber mit Leuten von der Opposition gesprochen und begegnete dabei einer gewissen Gleichgültigkeit. Bei Einiges Russland interessierte man sich für mich. Außerdem gab es auch wissenschaftliche Beweggründe für diesen Schritt. Seit über 20 Jahren betreibe ich Elitenforschung. Dabei handelt es sich um eine besonders schwer zugängliche soziale Gruppe. Mit den üblichen Methoden ist an diese nicht heranzukommen.
— Und warum sind Sie jetzt wieder ausgetreten?
— Ausschlaggebend hierfür war mein Gefühl, dass in Russland derzeit eine revolutionäre Stimmung aufkommt. Die jüngsten Entwicklungen haben eine ungeheure Brisanz und für mich als Wissenschaftlerin ist es selbstverständlich, mich mit ihnen zu befassen. Ich sehe auch, dass sich mit den Protesten bislang niemand ernsthaft beschäftigt hat. Es gibt zwar die eine oder andere soziologischen Erhebung, mehr aber auch nicht. Als Wissenschaftlerin habe ich einen Anspruch auf Objektivität und daher bin ich aus der Partei Einiges Russland ausgetreten.
— Bereuen Sie Mitglied der Partei gewesen zu sein?
— Natürlich nicht. Wissenschaftlich gesehen war das eine äußerst interessante Erfahrung. In unserer Gesellschaft ist die Meinung verbreitet, dass es ein politisches Machtmonopol gibt und die Siege der regierenden Partei quasi vorprogrammiert sind. Für mich war es überraschend, dass das überhaupt nicht zutrifft. Ich habe gesehen, wie die Parteiaktivisten von Einiges Russland sich aufregen und beschimpfen, wie sie kämpfen und nächtelang nicht schlafen, um in jeder einzelnen Region und auf jeder politischen Ebene ihre Siege zu behaupten. In dieser Hinsicht irrt sich die Opposition gewaltig. Von einem „Monopol“ der politischen Macht kann überhaupt keine Rede sein. Es gibt lediglich Überreste eines autoritären Systems. Das Denken und die Erfahrungen der politischen Klasse Russlands sind noch sehr autoritär geprägt. Ihnen sind neue und demokratische Praxisformen und Wahlgegner ebenso fremd, wie Diskussionen mit den Wählern und Transparenz von Beamtengehältern. Das Problem hierbei ist aber nicht Putin.
Nehmen wir an, ein Restaurantbesitzer erlaubt seinen Angestellten inoffiziell, Trinkgeld anzunehmen. Im Arbeitsvertrag ist dieser Punkt nicht geregelt, es handelt sich lediglich um ein Zugeständnis. Wenn du willst, nimm Trinkgeld. Nehmen wir weiter an, dass der Restaurantbesitzer wechselt und es gelten auf einmal andere Regeln. Es ist nicht mehr erlaubt, Trinkgeld anzunehmen. Bisher haben aber alle dieses Geld angenommen. Das heißt, dass jetzt ein neuer Vertrag gilt. Ein politischer Führer, der entsprechend handelt, wird sofort Gegner haben. Medwedjews deklarierter Feldzug gegen die Korruption war sehr riskant. Er löste eine gefährliche Spaltung der Elite aus, weil Medwedjew gegen den Vertrag verstoßen hatte. Ein großer Teil der Elite wusste nicht mehr, welchen Regeln sie folgen sollten. Sie bevorzugen Putin, weil sie einschätzen können, für was er steht. Die Eliten schätzen ihn auch wegen seiner Personalpolitik. Im Unterschied zu Jelzin hat Putin nicht massenhaft Angehörige der politischen Klasse vor die Türe gesetzt, die dann sofort ins Oppositionslager gewechselt sind.
— Wollen Sie damit sagen, dass die Opposition in Russland in den 2000er Jahren keinen Zulauf hatte, weil niemand aus der politischen Elite verjagt wurde?
— In gewisser Weise ja. Ich habe mich jahrelang mit der „Elitenwanderung“ beschäftigt. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit dieser Verschiebungen, dem Charakter von Amtsenthebungen und der Stärke der Opposition. Sämtliche „alte“ Oppositionsführer sind Leute, die aus ihren früheren Machtpositionen verdrängt wurden.
— Wer sind die Führer der Oppositionsbewegung?
— Diese Bewegung hat keine Führer, weil es keine geschlossene Opposition gibt. Die Kommunisten versammeln sich hinter Gennadij Sjuganow und die Internet-Gemeinschaften bestehen ja gar nicht aus
Menschen, sondern aus Plattformen. Niemand kann tatsächlich erkennen, ob Nawalnyj einen Blog führt oder nicht. Die Massen lassen sich von einer Plattform bewegen, nicht von ihm. Nawalnyj kann krank werden und unter seinem Name jemand anderen schreiben lassen. Er ist intellektuell gesehen eine Führungsfigur, aber nicht als Person. Diese Art von Führungsfiguren sind austauschbar, weil sich alle möglichen Leute hinter einer Plattform verbergen können. Die Opposition, die sie geschaffen hat, hat die Konsequenzen dieser Entwicklung noch nicht erfasst. Sie begreift noch nicht ihre Flüchtigkeit und ihre Stärke, sie weiß noch nicht, wie sie ihre Ressourcen lenken soll.
— Welche Zukunft sehen Sie für die Protestbewegung?
— Es gibt Leute, die Aspekte unseres sozialen Systems kritisieren – zum Beispiel das Gesundheitswesen, das Bildungssystem, das Rentensystem. Das ist sozialer Protest. Daneben gibt es den politischen Protest auf der Straße, er wird von Intellektuellen artikuliert. Wenn diese Mittelstands-Aktivisten aus den Großstädten es schaffen, die von sozialen Missständen bewegten Protestwähler „einzufangen“, dann haben wir eine millionenstarke Bewegung. Das wird eine Revolution. Aber bislang taucht das alte Mütterlein, das von seiner Rente nicht leben kann, auf den Moskauer Demonstrationen nicht auf. Die einen protestieren hier, die anderen dort.
— Was hindert diese Oppositionsgruppen bislang daran, sich – zumindest in Moskau – zusammenzuschließen?
— Stellen Sie sich eine alte Rentnerin, die ihre Kopeken zählt, neben einem Oppositionsführer vom Schlag eines Boris Nemzow vor. Sehen Sie etwa irgendwelche Gemeinsamkeiten? Die unzufriedenen Alten legen außerdem eine ausgeprägte Passivität an den Tag. Was schert sie ein Nawalny, wenn ihre Rente von Putin abhängt? Bislang sind das Menschen aus unterschiedlichen Welten, sie sprechen vollkommen verschiedene Sprachen. Vielleicht verhilft der Bewegung das Entstehen von Protestzentren in den Regionen zum Durchbruch. Die Opposition muss die jungen Leute aus sozial schwachen Schichten für ihre Ziele gewinnen. Das wäre ihr Weg zum Erfolg. Sie muss an den Enkel der Rentnerin heran, in deren Wohnung das Wasser von der Decke tropft. Die Alten lassen sich nicht mehr begeistern, die jungen Leute aus armen Familien in der Provinz aber sehr wohl.
ZurPerson:
Olga Wiktorowna Kryschmanowskaja wurde 1954 in Moskau geboren. 1979 beendete sie ihr Studium an der philosophischen Fakultät der Lomonossow-Universität. Seit 1989 leitet sie das Zentrum für Elitenforschung am Institut für Soziologie an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Sie ist Trägerin einer Ehrenprofessur der Universität Glasgow und promovierte Soziologin. Arbeitsschwerpunkt von Olga Kryschmanowskaja ist die Elitenforschung, sie verfasste die in mehrere Sprachen übersetzten Studie „Anatomie der russischen Elite“. 2009 trat sie der Partei Einiges Russland bei und war während der Präsidentschaftswahlen 2012 Vertraute des Kandidaten Wladimir Putin. Am 11. Juni 2012 erklärtesieihren Austritt aus der Partei.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitung Moskowskije Nowosti.
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