Die katholische Kirche in Rybalskoje erinnert an die deutsche Kultur, die vor mehr als 200 Jahren ihren Ursprung genommen hat. Foto: Pauline Tillmann
Die russischen Zaren holten 1781 deutsche Handwerker, Wissenschaftler und Landwirte als tüchtige Siedler ins Land. Einige von ihnen ließen sich an der Wolga nieder, andere am Schwarzen Meer. Die Bedingungen waren verlockend, denn ihnen wurden besondere Privilegien in Aussicht gestellt – darunter Religionsfreiheit, Befreiung vom Kriegsdienst und Selbstverwaltung. Im Gegenzug dazu sollten die Kolonisten brach liegende Äcker in nutzbare Felder verwandeln. Und ihr Handwerk verbreiten.
Viele von ihnen siedelten sich in der Nähe von Odessa an. Die so genannten „Schwarzmeerdeutschen“ bauten Häuser, Schulen, Kirchen und Straßen. Die erste Zeit war hart, viele Siedler starben an Hunger oder Erschöpfung. Ein passendes Sprichwort besagt: Erste Generation – Tod, zweite Generation – Not, dritte Generation – Brot. Doch auch später wurde es kaum leichter; zuerst verschwanden die Privilegien und dann kam Stalin. Unter Stalin mussten die Deutschen um ihr Leben fürchten. Hunderttausende wurden nach Kasachstan oder nach Sibirien deportiert. Anfang der 90er Jahre kehrten einige in ihre Heimat zurück. Aber die meisten sind nach Deutschland, Kanada oder die USA ausgewandert. Es gibt nur noch wenige Schwarzmeerdeutschen, die in der Ukraine leben und versuchen die deutsche Kultur ihrer Eltern und Großeltern mit allen Mitteln am Leben zu erhalten.
Eine dieser Wenigen ist Luise Risling. Die 76-Jährige ist nicht ausgewandert sondern Anfang der 90er aus Lettland in ihre Heimat zurückgekehrt. Ihre Heimat, das ist Rybalskoje – zu Deutsch Selz. Ein Dorf mit 3.000 Einwohnern im Westen der Ukraine, 120 Kilometer von Odessa entfernt. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten hier nur Deutsche. Heute ist die deutschstämmige Luise Risling die einzig Verbliebene. Sie sagt: „Fahren oder nicht fahren… sicher, ich hätte es vielleicht besser gemacht. 1992 hätte ich nach Deutschland gekonnt, dann wäre das vielleicht leichter gewesen – nur das Haus hat mich hier gehalten.“
„Ich bin Deutsche und ich bin stolz darauf“
In diesem Haus, dem Haus ihres Vaters, wohnt sie jetzt mit ihrer Tochter Lena und Enkelkind Renata. Die Renten seien niedrig, klagt Luise Risling. Und Arbeit gebe es auch keine. Trotzdem lässt sie sich nicht unterkriegen. Zehn Jahre lang hat sie alles gesammelt, was sie gefunden hat zum Thema Schwarzmeerdeutsche in Selz und Umgebung – und damit ein Museum eingerichtet. Das Museum besteht aus einem großen Raum in einer Schule, zehn Minuten von ihrem Haus entfernt. An der Wand hängen schwarz-weiße Fotografien, in der einen Ecke steht ein Klavierflügel, in der anderen eine Nähmaschine von Singer. Manchmal bekommt Luise Risling Besuch von Nachfahren der deutschstämmigen Auswanderer. Mit den Spenden kann sie das kleine Museum gerade so aufrecht erhalten. Sie will damit gegen das Vergessen ankämpfen.
Luise Risling hat ein Museum in einer Schule eingerichtet, um an die deutsche Geschichte in der Ukraine zu erinnern. Foto: Pauline Tillmann |
Mit ihren 76 Jahren blickt sie auf ein wechselvolles Leben zurück, mit einigen Höhen, aber auch vielen Tiefen. Sie erinnert sich: „Oh, ich musste mir viel anhören. „Faschist“ haben sie zu mir gesagt, schade, dass sie euch nicht erschossen haben. Und ich habe geantwortet: Ich bin Deutsche und bin stolz darauf. Also: Ich habe es niemals nicht abgesagt von dem, dass ich eine Deutsche bin. Mein Vater ist ein Deutscher, meine Mama ist eine Deutsche, so blieb ich und bis ich sterbe bin ich Deutsche.“ Durch das Museum habe sie etwas für ihre Nachkommen geschaffen, sagt sie. Damit sie ihre deutschen Wurzeln niemals vergessen.
1937 wurde der Vater von Luise Risling von den Sowjets erschossen, weil er Deutscher war. Bis heute steckt ihr das in den Knochen, denn es wurde in ihre Dokumente eingetragen und hat sie ein Leben lang verfolgt. Vor allem als die Kommunisten an der Macht waren, wurde sie ständig damit konfrontiert. Heute konfrontiert sie niemand mehr. Der Makel Deutsch zu sein hat sich vor 20 Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, in Luft aufgelöst. Doch ein Problem bleibt: Die deutsche Kultur in der Ukraine scheint langsam aber sicher auszusterben.
In Odessa ist Russisch die dominierende Sprache
Die evangelisch-lutherische Kirche wurde mit Hilfe der Bayerischen Landeskirche wiederaufgebaut. Foto: Pauline Tillmann |
Dagegen kämpft Bischof Uhland Spahlinger. Er leitet die evangelisch-lutherische Kirche St. Paul in Odessa. Im Gottesdienst spricht er Deutsch, eine schmale Frau übersetzt seine Worte ins Russische. „Das ist manchen unserer Gemeindeglieder schwer zu vermitteln“, erklärt er, „sie wenden ein: Wir sind doch die deutsche Kirche, wir müssen doch die deutsche Sprache und die deutsche Kultur, das deutsche Traditionsgut, die deutschen Choräle beibehalten, denn Deutsch war ja die Sprache Martin Luthers.“ Allerdings sagte Luther auch man müsse dem Volk aufs Maul schauen. Das heißt Spahlinger findet, es gehe nicht um die deutsche Sprache sondern es gehe um die Sprache der Menschen. Und die ist in Odessa Russisch.
Uhland Spahlinger ist der oberste Vertreter der deutschen evangelisch-lutherischen Kirche in der Ukraine. Bevor er nach Odessa gekommen ist, war er Gemeindepfarrer in München. Die meisten Ukrainer sind orthodox, entweder russisch-orthodox oder ukrainisch-orthodox. Nur die Wenigsten sind katholisch oder evangelisch. 1897 hatte die Gemeinde St. Paul mehr als 1.000 Mitglieder. Heutzutage sind es deutlich weniger. Aber die Wenigen sind besonders aktiv. Sie treffen sich zur Bibelstunde, tauschen Kochrezepte aus, schicken die Kinder zum Tanzkreis und treffen sich zwei Mal wöchentlich um Deutsch zu lernen. Denn viele haben die Sprache ihrer Vorfahren nie gelernt. Der 76-jährige Ernst Trott besucht den Sprachkurs regelmäßig und sagt: „Ich spüre die deutschen Wurzeln stärker als die ukrainischen. Ich mag Ordnung. Wenn ich mit meinen Studenten eine Zeit ausmache, kann ich keine Minute zu spät kommen. Und neben der Pünktlichkeit ist mir Verlässlichkeit sehr wichtig. Das sind alles deutsche Tugenden.“
Bischof Uhland Spahlinger ist der oberste Vertreter der deutschen evangelisch-lutherischen Kirche in der Ukraine. Foto: Pauline Tillmann |
Als das Sowjetreich 1991 auseinanderbrach, wollte Ernst Trott nach Deutschland ausreisen, aber er durfte nicht, weil ihm die Nationalität von einer jungen Beamtin geändert wurde. Sie sagte damals nur so sei es möglich ein normales Leben zu führen und eine gute Ausbildung zu bekommen. Denn die Deutschen litten während des Kommunismus unter Repressalien. Heutzutage gibt dem 76-jährigen Ernst Trott die Gemeinschaft mit den anderen Deutschstämmigen in Odessa Kraft und das Gefühl: Ich bin nicht allein. Aktuelle Schätzungen gehen heutzutage von rund 30.000 verbleibenden Deutschstämmigen aus. Sie leben in der ganzen Ukraine verteilt, viele von ihnen im Umkreis von Odessa, aber auch in der Nähe der Krim und in Donezk, im Osten des Landes.
Die GiZ, Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, hat es sich zur Aufgabe gemacht diese deutsche Minderheit zu unterstützen. So werden regelmäßig Zeltlager für Jugendliche organisiert, Festivals veranstaltet, Seminare durchgeführt und Ausflüge unternommen. Dafür gibt die GiZ jedes Jahr mehr als 700.000 Euro aus, das Geld kommt aus dem deutschen Staatshaushalt. In der ganzen Ukraine gibt es mehr als 60 Begegnungsstätten und insgesamt sieben regionale Informationszentren. Damit soll die deutsche Kultur am Leben erhalten werden.
„Deutsch zu sein, das ist ein Gefühl“, sagt die 74-jährige Elsa Kukuratse. Obwohl ihre Mutter schon lange tot sei, kämen ihr immer Tränen, wenn sie deutsche Lieder höre. Denn: Es klinge so vertraut. So wie Elsa Kukuratse geht es vielen Deutschstämmigen. Allerdings wird das Gefühl schwächer. Denn die jüngere Generation kann gar nicht mehr genau sagen was das Deutsche konkret ausmacht. Die Schwarzmeerdeutschen haben vor 200 Jahren neue Obst- und Gemüsesorten mitgebracht und ein brach liegendes Land bewirtschaftet. Damals hatten sie eine konkrete Aufgabe. Heute leben die meisten Deutschstämmige in Mischehen und haben sich vollständig assimiliert.
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