Die Occupy-Abai-Aktion im Moskauer Stadtzentrum. Foto: Ilya Varlamov
„Ich habe meinen Urlaub bewusst so gelegt, dass ich am „Marsch der Millionen“ teilnehmen konnte. Ich wollte damit zeigen, dass es auch außerhalb der Hauptstadt engagierte Menschen gibt“, kommentiert Tatjana S. aus Uljanowsk ihren Aufenthalt in Moskau. Tatjana ist Erzieherin und arbeitet in einem Kindergarten. Der junge Mann an ihrer Seite ist der Moskauer Alexej, sie haben sich vor zwei Monaten in Astrachan kennengelernt. „Er hat mir bei den Reisevorbereitungen geholfen und mich bei sich aufgenommen“, erzählt Tatjana.
Am Tag vor der Demonstration führt Alexej sie zu Orten, die von der Protestbewegung bereits besetzt wurden, so beispielsweise zum Park Tschistye Prudy.
Moskau ist seit dem Frühjahr Reiseziel für Polittouristen. Die erste Welle erreichte die Hauptstadt im Mai. Nach Angaben der Moskauer Verwaltung für Inneres waren von den dreißig Demonstranten, die am 16. Mai an der Metro-Station Barrikadnaja festgenommenen wurden beinahe die Hälfte Touristen.
Für den „Marsch der Millionen“ am 12. Juni wurde mit einem weiteren Ansturm von Aktivisten aus der Provinz gerechnet. Mehr als 10.000 Protestwillige hatten über das soziale Netzwerk VKontakte ihr Kommen angekündigt, darunter waren rund 7.000 Moskauer. „Die Aktivisten aus den Regionen bringen ihr Potenzial mit in die Hauptstadt“, erläutert Alexej Makarkin, Vize-Präsident des Zentrums für Polittechnologien. „Während ihrer Reisen nach Moskau bietet sich ihnen zudem die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen. Aber auch Moskaus Oppositionelle, denen oft vorgeworfen wird, nicht über den Tellerrand ihres Metropolendaseins hinauszuschauen, bekunden, mittlerweile, ihr Interesse an Ausflügen in die russische Provinz.“
Touristen-Checkliste
Wie jeder Tourist muss auch der Politreisende Fahrt und Unterkunft planen. Polittouristen sollten darüber hinaus zusätzliche Kosten für die Kommunikation einplanen: Telefongespräche mit Gleichgesinnten, Internetbeiträge über die Reisepläne und bei ungünstigstem Reiseverlauf – Telefonate mit dem Rechtsanwalt.
Als Antwort auf diesen neuen Trend entstand das erste „Reisebüro“ für Polittouristen. Die Vereinigung Rossdessant wurde speziell für den Zweck gegründet, Spendengelder für Reisen zu „politischen Brennpunkten“, unter anderem Moskau und Astrachan, zu sammeln. Die Idee dazu hatten Nikolaj Chischnjak und Albina Raskolnikowa, zwei Fotografen aus Samara.
Laut den auf der Projektwebseite veröffentlichten Zahlen gelang es, innerhalb eines Monats über 380.000 Rubel zu sammeln und damit jeweils etwa 200 Personen eine Reise in die beiden Städte zu ermöglichen. Die Initiatoren stellten die preisgünstigsten Routen zusammen, legten die Zeitfenster für die Reisen fest, kauften von dem gesammelten Geld Bahn- und Bustickets oder erstatteten Ausgaben für Benzin.
„Wir haben schnell begriffen, dass sich viele nur für unser Projekt interessieren, weil es ihnen verspricht „für lau“ zu reisen“, berichtet Albina. Wir mussten daher ein eigenes „Sicherungssystem“ schaffen.
Es lehnt Anträge Minderjähriger ab, überprüft die Glaubwürdigkeit der Angaben auf dem elektronischen Fragebogen und das Profil eines Antragstellers im „Sozialen Netz“. Viele Interessenten sortierten wir so bereits im Vorfeld aus.“ Einigen Polittouristen gelingt es sogar, sich ohne die Hilfe eines „Reisebüros“ eine kostenlose Reise in die gewünschte Stadt zu organisieren. Artjom Ajwasow aus Moskau sammelt beispielsweise mithilfe eines „e-Wallets“ Geld für eine Polit-Tour nach Astrachan.
„Ich hatte damals nicht viel Geld, vielleicht gerade einmal 6000 bis 7000 Rubel“, erzählt ein Aktivist. „Davon konnte ich mir keinen Hin- und Rückflug leisten. Da habe ich einen Twitter-Aufruf gestartet, ob mir nicht jemand finanziell weiterhelfen könnte. Es haben einige drauf geantwortet, die ich zuvor überhaupt nicht kannte. Am Ende hatte ich die doppelte Summe.“
Nicht für jedermann
In der Polittourismus-Szene tauscht man üblicherweise wertvolle Informationen darüber aus, wo und für wie viel man in einer Stadt unterkommen kann. In den Foren sozialer Netze wird über Hotelpreise im Süden von Astrachan und im sibirischen Krasnojarsk diskutiert, es gibt Kontaktbörsen für das gemeinschaftliche Anmieten von Wohnungen. Nika Kakobjan konnte sich selbst von dem Nutzen der gegenseitigen Hilfe überzeugen. Bei der Vorbereitung ihrer Fahrt von Stawropol nach Astrachan ließ sie sich in Sachen Unterkunft von anderen Polittouristen beraten.
„Stellen Sie sich vor, man empfahl mir, in der Verwaltungs- und Hotelanlage der Regierung des Gebietes Astrachan abzusteigen“, berichtet die junge Frau. „Zuerst dachte ich, das sei ein Witz. Aber es stellte sich heraus, dass man dort tatsächlich, für etwa 400 Rubel die Nacht, günstig und komfortabel unterkommen kann.“
Polittourismus ist natürlich kein Vergnügen für jedermann. Er ist vor allem unter jungen Leuten populär, die weder familiäre Verpflichtungen noch ernsthafte Pläne für ihre Zukunft haben.
„Es ist naheliegend, dass vor allem jüngere und mobile Leute diesem Trend folgen“, so Denis Wolkow vom Lewada-Zentrum. „Entscheidend sind dabei nicht die Einkommensverhältnisse, sondern die Möglichkeit zu einem wirtschaftlich unabhängigen Handeln. Deshalb überwiegen unter den Polittouristen die Freiberufler, also Leute, die ihren Arbeitsplatz nicht riskieren.“
Der eine hält die Erfahrung der Polittouristen für amüsant, ein anderer für schräg und ein Dritter für gefährlich. Alexej Muchin, Leiter des Zentrums für politische Information, äußert seine Befürchtungen ohne Umschweife: „In der Politikwissenschaft spricht man in diesem Zusammenhang von Methoden einer „samtenen Revolution“. Man könnte aber auch von einem Virus der Revolution sprechen. Trotz ihrer Abneigung gegen Moskau ahmt die Provinz die politischen Protestformen der Hauptstadt nach. Diese wurden zunächst in Moskau getestet. Anschließend machten sich die Oppositionsführer auf den Weg in die Provinz. Dort steckten sie die ortsansässigen politischen Eliten mit dem Virus an und hatten bei ihrer Rückkehr nach Moskau politisierte Gruppierungen aus den Regionen im Schlepptau, die bereit zu radikalen Aktionen waren und keinerlei soziale Verantwortung zeigten.“
Es ist nicht zu übersehen, dass der Polittourismus an Zulauf gewinnt. Die Frage wie dieser Trend zu bewerten ist, bleibt vorerst jedoch offen.
Gekürzte Fassung. Der ungekürzte Beitrag ist zuerst in der Zeitschrift Ogonjok erschienen.
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