Flutkatastrophe: Augenzeugen berichten

Ein Mann steht am 8. Juli 2012 neben seinem überfluteten Haus in der südrussischen Stadt Krymsk. Viele Bewohner der Region Krasnodar sind nach der Flut obdachlos geworden. Foto: AFP

Ein Mann steht am 8. Juli 2012 neben seinem überfluteten Haus in der südrussischen Stadt Krymsk. Viele Bewohner der Region Krasnodar sind nach der Flut obdachlos geworden. Foto: AFP

Die Ermittlungsbehörde der Russischen Föderation untersucht derzeit die Ursachen der Hochwasserkatastrophe im Süden Russlands, während das ganze Ausmaß der Tragödie immer deutlicher wird. Eine Reportage vom Ort des Geschehens.

Die Wassermassen überfluteten zunächst Gelendschik, danach Noworossijsk und Krymsk. Erste Schätzungen beziffern den materiellen Schaden bereits auf umgerechnet mehr als 25 Millionen Euro, während die  Zahl der Toten ständig nach oben korrigiert werden muss. Die Bewohner der betroffenen Ortschaften sprechen von Hunderten Opfern der Naturkatastrophe und berichten von alten Menschen, die unter den Trümmern zerstörter Häuser verschüttet sind.

Die Mitglieder der Ermittlungsbehörde der Russischen Föderation unter Leitung von Alexander Bastrykin, finden Gebäude vor, die aussehen, als habe ein furchtbares Bombardement stattgefunden.

Chronik einer Tragödie

Der Verwaltungschef des Kreises Krymsk Wassili Krutko hat die erste Nachricht von der drohenden Überschwemmung am Freitag, dem 6. Juli, gegen 22.00 Uhr erhalten. Eine halbe Stunde später, so Krutko, sei dann das offizielle Telegramm des Katastrophenschutzministeriums der Russischen Föderation eingegangen. Ab 23.00 Uhr habe der örtliche Fernsehsender eine Laufzeile gesendet.

„Die Menschen in den betroffenen Gebieten wurden aufgefordert, wichtige Dokumente einzupacken und sich darauf vorzubereiten, ihre Häuser zu verlassen. Währenddessen sind unsere Mitarbeiter von Haus zu Haus gegangen und haben die Bewohner geweckt“, berichtet Krutko. Zudem seien Warnsirenen eingeschaltet worden.

Augenzeugen der Katastrophe sehen das anders. Unmittelbar von der Überschwemmung betroffene Einwohner der Stadt Krymsk wie Marina Efeschkina schildern, dass sie von niemandem gewarnt wurden und allein dank der Hilfe von Nachbarn überlebten.

Marina Efeschkina ist die Nichte meiner Freundin Lusja, deren Telefonanruf mich in der Hochwassernacht mit schrillem, lang anhaltendem Klingeln weckte. „Krymsk versinkt“, schrie Lusja in den Hörer. „Bei Marina war wegen des vielen Wassers die Tür blockiert, deshalb konnten sie und ihre Tochter das Haus nicht verlassen. Gottseidank sind dann Nachbarn gekommen, haben die Tür freigemacht und die beiden herausgeholt. Jetzt sitzen sie auf dem Boden des einstöckigen Nachbarhauses, ihr eigenes steht schon bis zum Dach unter Wasser. Fast 20 Leute haben sich auf diesen Boden geflüchtet, die Hälfte davon Kinder, und kein Mensch denkt daran sie zu retten, obwohl das Wasser steigt.“

Meine Freundin schildert ihre vergeblichen Versuche, telefonisch zu den Notdiensten durchzudringen, um die Adresse des Hauses zu übermitteln. Entweder waren die Leitungen tot oder es nahm einfach niemand ab.

Nina Stepanenko aus der Perejaslowskaja-Straße 24 lief ab Mitternacht von einem Haus zum anderen und weckte die Nachbarn. Als sie dann nachhause zurückkehrte, um ihre Dokumente zu holen, wurde sie von den Wassermassen eingeschlossen. „Ich sitze auf dem Dach, das Wasser reicht schon bis zu meinen Füßen“, beschreibt mir Nina Stepanenko ihre Lage. „Mit der einen Hand halte ich den Telefonhörer, um mich herum ist es stockfinster. Geben Sie um Himmels Willen weiter, dass ich noch hier bin, damit die mich nicht vergessen.“

Ich wähle umgehend die Handynummer Alexander Kaslikins, des Leiters des Katastrophenschutzministeriums der Region Krasnodar, und übermittle ihm die beiden Notfälle, von denen ich erfahren habe. „Dort stehen ganze Straßenzüge unter Wasser“, bestätigt der General. „Es sind 15 Boote aus Slawjansk-am-Kuban unterwegs, damit holen wir die Leute heraus.“

Hilfe traf ungefähr am nächsten Mittag ein, als der Wasserstand den Einsatz der riesigen Fahrzeuge erlaubte. Rettungskräfte nahmen die Kinder auf die Schultern, die Erwachsenen wateten durch das bis zur Brust reichende Wasser zu den Booten. „Wir sind durch die Sowjetskaja-Straße geschwommen wie in einem Fluss“, erzählt Marina. „Entsetzt habe ich auf die wie eine Ziehharmonika zusammengeschobenen Holzhäuser geschaut, die umgestürzten Bäume und die herausgerissenen Zäune. Am Rande einer Straße war der Körper einer alten Frau zu sehen, in der ich unsere Nachbarin erkannt habe.“

Aus der gesamten Stadt wurden die Geretteten in das neben der Stadtverwaltung gelegene Kulturzentrum „Rus“ gebracht. Dort erhielten sie Essen, Kleidung und das Angebot, zunächst in einer der in Schulen und Kindergärten eingerichteten Notunterkünfte zu bleiben. Viele wurden jedoch bald von Verwandten oder Bekannten abgeholt, bei denen sie Zuflucht fanden.

Nach dem Wasser bleibt ein Bild der Verwüstung

Als  meine Freundin Lusja und ich am Sonntagmorgen in Krymsk eintrafen, gingen wir als Erstes in die Adagumskaja-Straße. Das uns so vertraute Haus bot ein Bild des Grauens: Die Türen waren aus den Angeln gerissen, die Möbel verbogen, die Fensterscheiben zerschlagen, die Wände bis zur Decke schwarz, Kühlschränke und Fernsehgeräte lagen in wüstem Durcheinander auf dem Fußboden. Sämtliche Garagen und Schuppen im Hof hatten die Fluten mitgerissen. Das Wasser war abgeflossen, geblieben waren allein Schlamm und Berge von Müll.

 Foto: Mikhail Mordasov, RIA Novosti

In Krymsk soll das Wasser in der Katastrophennacht bis zu sieben Meter hoch gestiegen sein. Es überflutete die Stadt gegen zwei Uhr nachts als reißender Strom, der buchstäblich alles auf seinem Weg fortspülte. Wir haben an den Straßenrändern nicht nur mitgerissene Personenkraftwagen, sondern sogar Lastwagen gesehen.

Jetzt stehen die Häuser sperrangelweit offen, viele sind verlassen. Polizisten patroulieren rund um die Uhr durch die Straßen. In der Katastrophennacht waren sämtliche Polizeikräfte des Kreises im Rettungseinsatz. Wjatscheslaw Gorbunow, der Leiter einer Polizeieinheit, trug zwei Kleinkinder aus einem überfluteten Haus in der Sowjetskaja-Straße. Als er zurückkam, um die erwachsenen Bewohner zu retten, geriet er selbst in die Fluten.

In Krymsk treffen noch immer Brigaden des Katastrophenschutzministeriums aus verschiedenen Regionen Russlands sowie Armeeangehörige aus nahegelegenen Garnisonen ein. Fast vierundzwanzig Stunden lang galten alle Anstrengungen der Rettung von Menschen, jetzt werden die Leichen der Überschwemmungsopfer geborgen und die Müllberge beseitigt.

Bei der Staatsanwaltschaft der Stadt nimmt ein Mitarbeiter Vermisstenanzeigen auf. Es sprechen auch Krymsker vor, die sich um alleinstehende ältere Mitbürger sorgen und darum bitten zu prüfen, ob sie die Überschwemmungskatastrophe unbeschadet überstanden haben. Vor der Ausgabestelle für humanitäre Hilfe hat sich eine Warteschlange gebildet.

Seit dem Morgen des 9. Juli sind in Krymsk groß angelegte Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten im Gange. Eigens eingerichtete Kommissionen zur Schadensermittlung beginnen in den betroffenen Stadtteilen mit der Sichtung sämtlicher durch die Naturgewalt in Mitleidenschaft gezogener Häuser.

Ursachen werden kontrovers diskutiert

Bereits vor zehn Jahren waren gleichfalls im Sommer Flüsse über die Ufer getreten und hatten zuerst den Norden sowie anschließend – ebenso wie diesmal – den Südwesten der Region Krasnodar überflutet. Damals starben Dutzende Menschen in der Umgebung von Noworossijsk, auch in Krymsk waren einige Opfer zu beklagen. Doch im Juli 2012 sind die Folgen der Naturgewalten unvergleichlich schlimmer. Wo liegen die Ursachen?

Unmittelbar nach der Tragödie tauchten in Internet-Blogs Meldungen auf, dass Krymsk überflutet worden sei, weil man Wasser aus einer nahegelegenen Talsperre abgelassen habe. Diese Version wurde jedoch von der Regionalverwaltung Krasnodar entschieden dementiert. Iwan Sengerow, Sprecher der Ermittlungsbehörde der Russischen Föderation in der Region Krasnodar, ließ erlauten, die Schleusen der Talsperre seien automatisch von Wasserüberständen entlastet worden. Ob dieser Umstand auf das Ausmaß der Überschwemmung Einfluss hatte, von der die Stadt Krymsk heimgesucht wurde, müssen nun die Fachleute klären. 

Die ungekürzte Fassung des Artikels erschien zuerst bei Rossijskaja Gaseta.

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