Russen konsumieren lieber statt zu sparen

Eine Frau präsentiert Parfüm bei der Eröffnung einer Millionärsmesse in Moskau am 27. November 2008. Foto: Reuters

Eine Frau präsentiert Parfüm bei der Eröffnung einer Millionärsmesse in Moskau am 27. November 2008. Foto: Reuters

Der Notgroschen für schlimme Zeiten hat seinen Sinn verloren, denn schlimme Zeiten durchleben die Russen faktisch jeden Tag – wozu dann also etwas zurücklegen? Besser ist es wohl, sich ein kleines Stück Glück zu kaufen, solange das Geld nicht endgültig seinen Wert verloren hat. Genau das machen die meisten Russen laut einer aktuellen Studie zum Konsumverhalten in Russland.

Die Krise bedeutet nicht Sparen

Alle Menschen gleichen einander. Doch in Erwartung der nächsten Krisenwelle ziehen die Bürger Russlands es vor, ihren Lohn im nächstgelegenen Einkaufzentrum auszugeben und jammern dabei, dass es ja eigentlich nicht der günstigste Zeitpunkt dafür sei. Die Zukunft wird allerdings kaum eine Verbesserung der Lage mit sich bringen – wahrscheinlich wird es eher schlimmer und manch einer wird ohne Lohn dasitzen und nichts mehr zum Ausgeben haben. Also doch lieber jetzt auf die neue Bluse verzichten? Oder auf das neue iPhone?

Dies ist keine Übertreibung. Laut einer Ende Juni veröffentlichten Sozialstudie der Boston Consulting Group (BCG) äußern sich 60 % der Bevölkerung Russlands (mehr als in jedem andern BRIC-Staat), dass die Krise auf sie eine unmittelbar negative Auswirkung habe. Lediglich 29% erwarten, dass die wirtschaftliche Situation sich im Laufe des kommenden Jahres verbessern wird. Nach Angaben der Firma Nielsen glauben 69%, der Befragten, dass momentan nicht der beste Zeitpunkt sei, um Anschaffungen zu tätigen. Trotzdem kaufen sie ein.

Ersparnisse sind ja deshalb Ersparnisse, um einen Notgroschen für schlimme Zeiten zur Verfügung zu haben. Gibt es keine Ersparnisse, auf die man im Notfall zurückgreifen kann, wird der Lebensstandard im Falle einer drastischen Verschlechterung der Umstände rapide sinken. Geschieht dies landesweit, sind die Folgen kaum vorstellbar.

„Eigentlich wäre dies Aufgabe des Staates, doch sind die Menschen

unter den Bedingungen der Marktwirtschaft für sich selbst verantwortlich“, unterstreicht der Leiter des Labors für experimentelle und Verhaltensökonomie der Universität für Wirtschaft, Alexej Beljanin. Allerdings denken viele russische Verbraucher nicht über Verantwortung nach ‑ sie möchten einfach ein kleines Stück vom Glück. 

Dabei ist es nicht so, dass es im Lande keine anderen Freizeitbeschäftigungen gäbe: Sport treiben, ins Kino und Theater gehen oder aber, wie Beljanin der Zeitschrift Dengi (Geld) mitteilte, an Demonstrationen teilnehmen, bereitet auch Vergnügen.

Aber ins Kino oder Theater zu gehen, so Klimenko, „haben die Russen in ihrer Kindheit nicht gelernt. Das primitive Vergnügen Einkaufen ist ihnen hingegen seit Kindesbeinen bekannt. Und es lässt sich leicht reproduzieren und ist deshalb so angenehm ‑ ein neues Paar Schuhe und man ist wieder glücklich“.

Dabei kann, wie die Elektronikkaufhauskette M.Video berichtet, in den beiden vergangenen Jahren eine allmähliche Veränderung der Nachfrage „in Richtung von Waren der mittleren und der gehobenen mittleren Preisklasse“ beobachtet werden. „Besonders ist das im Bereich der Unterhaltungs- und Heimelektronik zu spüren: Fernsehgeräte, Handys, Computer und Fotoapparate“, kommentiert ein Vertreter der Warenhauskette. „Die Käufer bevorzugen die neuen Technologien und kaufen entsprechend teure Waren, aber nicht zugunsten des Luxussegmentes“. Die Brieftasche wird dabei in jedem Falle etwas leichter, aber dafür haben die Käufer nicht das Gefühl, ihr Geld sinnlos ausgegeben zu haben.

Das Glück ist da, wo Einzelhändler sind

Bei den Lebensmitteln wächst die Nachfrage nach „sparsamen“ Angeboten. Foto: Kommersant


Bei den Lebensmitteln sieht die Situation etwas anders aus: Laut Untersuchungen der X5 Retail Group „erfolgt eine sukzessive Verdrängung des mittleren Segmentes und die Nachfrage nach „sparsamen“ Angeboten wächst. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach Luxusgütern leicht an ‑ auf Kosten der Nachfrage nach Waren der Premium-Klasse.“ Aber dies kann auch nur ein Zeichen dafür sein, dass die Konsumenten reifer werden.

Andererseits ist der Anteil derer, die vorhaben, mehr Geld für Luxuswaren und Dienstleistungen auszugeben, auf 18% gesunken (das sind 4% weniger als im Jahr 2011). Rund 43% der Befragten gaben an, dass die Krise sie dazu veranlasst hat, ihre Gewohnheiten zu ändern. Sie warten

mit großen Anschaffungen, versuchen Waren zu günstigeren Preisen zu ergattern und lassen keine Gelegenheit aus, durch den Kauf von Sonderangeboten Geld zu sparen. Hinter den Europäern stehen sie damit allerdings weit zurück: In Frankreich zum Beispiel ist so ein Verhalten für 55% der Bevölkerung üblich, in Italien sind es 62%. Beim Anteil der Luxusliebhaber (20%) trennen Russland ebenso Welten von anderen Ländern (sieht man einmal von Brasilien ab): In Indien, das den dritten Platz nach diesem Kriterium belegt, sind es 14% und in Japan lediglich 5%. 

„Unter dem Einfluss der zunehmenden Krisenangst sowie wachsender Inflations- und Deflationsbefürchtungen zieht es die Bevölkerung vor, ihre Ersparnisse nicht zur Bank zu bringen, sondern sie stattdessen für nachhaltige Waren auszugeben“, äußert sich Maria Pomelnikowa und merkt an, dass dies in solchen Krisensituationen für Russland ein typische Verhaltensmodell sei. Von den durch die BCG befragten Russen äußerten 18%, dass sie das Geld ausgeben werden, weil es zu riskant wäre, es anzulegen.

„Die Leute wissen nicht, was sie tun sollen. Ist es nun besser, dass Geld

in Rubel oder in Euro anzulegen? Oder gar in Dollar? Jede Variante könnte die falsche sein und die Einlagen wären weg. Waren sind in dieser Situation eine wesentlich stabilere Wertanlage“.

Eine andere Variante der Geldanlage „als den Erwerb von Konsumgütern“ sehen die Leute nicht, stimmt Alexej Beljanin zu. In Russland hat sich eine spezielle Situation herausgebildet: Die Bevölkerung verfügt über keinerlei zuverlässige Optionen, ihre Ersparnisse zu vergrößern und ist nicht dazu bereit, die Verantwortung für die eigene Zukunft selbst in die Hände zu nehmen.

Eine solche Situation ist eher typisch für einen gigantischen Zusammenbruch mit anschließender Ausrufung des Ausnahmezustands oder der Verkündung des Kommunismus (was unterm Strich das Gleiche ist). Unter normalen Bedingungen dürfte so etwas nicht passieren. Vor allem nicht in einer modernen Industriegesellschaft, in der die Menschen die Möglichkeit haben sollten, sich ökonomisch abzusichern.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitung Kommersant


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