Vom NGO-Gesetz zur „Liquid Democracy“

Bild: Niyaz Karim

Bild: Niyaz Karim

Am vergangenen Samstag, dem 21. Juli 2012, hat der russische Präsident Wladimir Putin die Gesetzesänderungen über über die Tätigkeit nichtstaatlicher Organisationen („Non-Governmental Organizations“, NGO) unterzeichnet. Die Zielrichtung ist klar: Im Text werden vom Ausland finanzierte NGO als schon mal als „ausländische Agenten“ bezeichnet. Mit der Ratifizierung der Gesetzesänderungen könnte Putin ein Rad in Bewegung gesetzt haben, die weder er noch die NGO erwarten – nämlich eine beschleunigte Reifung der russischen Zivilgesellschaft.

Wie läuft die Finanzierung von NGO eigentlich ab? Auf der einen Seite sind die NGO, die  in der Regel außerparlamentarisch alternative Themen voranbringen oder eine Opposition zur Regierung bilden. Sie beteiligen sich durchaus an der politischen Meinungsbildung – bis hin zu den Vereinten Nationen. Auf der anderen Seite brauchen sie Geld. Das bekommen sie durch Mitgliedsbeiträge, eigene Geschäftstätigkeit, aber vor allem von großen internationalen Geberorganisationen, darunter auch Staaten und Regierungsorganisationen. Nicht selten werden NGO finanziert, um inoffiziell  internationale Interessen durchzusetzen. 

Tatsächlich wurde die Mehrheit der zivilgesellschaftlichen Projekte in Russland durch ausländische Mittel finanziert. Das neue Gesetz ist darauf angelegt, diesen ausländischen Geldhahn praktisch zuzudrehen. Denn jede Organisation, die ausländische Geldmittel bezieht, muss ihre Buchführung offenlegen, also nachweisen, wo ihr Geld herkommt. Das erschwert nicht nur die Buchführung, sondern es ist nicht in ausländischem Interesse, diese Geldströme offenzulegen. Es wird also sehr schwer werden, weiter ausländisches Geld zu beziehen.

In der Folge wird ein Teil der NGO schließen, ein anderer mit Mühe

inländisches Geld finden, und eine bestimmte Anzahl NGO wird wohl in einer Grauzone agieren, in ständiger Angst juristischen Konsequenzen. Es gibt aber auch noch ein anderes Problem aus Sicht der Geberorganisationen: Bisher hatten sie, die nichtkommerzielle zivilgesellschaftliche Projekte zum Schutz der Menschenrechte oder der Umwelt finanzieren, kein Problem, „Bedürftige“ zu finden oder mit Geld deren Interessen zu steuern. Doch nun ist eine neue Ära angebrochen, und die hat mit der Verbreitung des Internet zu tun. Denn statt der klassischen NGO treten immer häufiger Internet-Communitys auf den Plan. Sie entstehen schnall aufgrund eines aktuellen Problems und lösen sich genauso schnell nach dessen Lösung wieder auf.

Deswegen bereitet es den Geberorganisationen Kopfschmerzen, auf welche Weise man solche Projekte fördern kann: Erstens bleibt oft unklar, wem konkret Geld zu geben ist. Zweitens wie die Verwendung des Geldes kontrolliert werden kann. Und drittens wie von einer losen Internetgemeinschaft Rechenschaft gefordert werden kann.

Das wird auch Russland betreffen, gerade wegen der neuen gesetzlichen Einschränkungen. Statt der NGO werden sich zivilgesellschaftliche Netzwerke etablieren, die in der Anonymität des Internet agieren können. Ein Beispiel dafür ist „OccupyAbay“, eine über den Internet-Dienst Twitter organisierte Oppositionsgruppe in Russland. Sie berichtet unabhängig und aktuell über politische Ereignisse, Demonstrationen und andere Protestaktionen. Finanziert werden solche Bewegungen hauptsächlich über das sogenannte Crowdsourcing – durch Kleinstspenden im Internet. Alexei Nawalny, Russlands berühmtester Blogger, konnte durch diese Art kollektiver Privatspende seine spektakulären politischen Aktionen finanzierten. Der Staat steht diesen Initiativen hilflos gegenüber. Auch das neue Gesetz ist gegen diese Form von Finanzierung machtlos. 

In Deutschland und anderen Ländern entstehen „Internet-Piraten“, die sogar in die Parlamente drängen und gegen etablierte Parteien sowie Politikverdrossenheit das Konzept der „Liquid Democracy“ setzen. Das bedeutet, dass jeder bei jedem Thema eine Stimme hat und im Internet Mehrheiten gesucht werden. All diese Trends werden auch die russische Zivilgesellschaft verändern. Die NGO des Neuanfangs  werden langsam aber sicher das Feld zugunsten der zivilgesellschaftlichen Internet-Netzwerke räumen. Das wird ganz entscheidend zu einer Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft in Russland beitragen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitung Moskowskije Nowosti.

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