Stalker – die Zukunft ist innen

Ein Screenshot des Films "Stalker". Foto: Kinopoisk.ru

Ein Screenshot des Films "Stalker". Foto: Kinopoisk.ru

Wie jedes Jahr zeigt das Arsenal-Kino in Berlin alle Filme des russischen Filmrebellen Andrei Tarkowski, der in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden wäre. Einen Monat lang sieben Filme aus 24 Jahren – welcher lohnt sich für Neugierige?

Für seinen Debütfilm hatte er in Venedig 1962 den Goldenen Löwen gewonnen. Sechs weitere folgten bis zu seinem frühen Tod kurz nach der Katastrophe von Tschernobyl. Die Filme Andrei Tarkowskis wurden im Ausland gefeiert, in der Sowjetunion waren sie Sprengstoff – subtil sprachen sie Themen an, die Bauchschmerzen machten: ob im Weltall oder im Land des unbegrenzten industriellen Fortschritts, stets erzählte er von der Sehnsucht des Menschen nach dem „mehr“ hinter unserer materiellen Existenz. Die Fragen sind aktueller denn je.

Fast immer geht es bei Tarkowski um eine Inselsituation: Drei oder mehr Charaktere geraten in eine Situation, aus der sie nicht ohne weiteres flüchten können. Tarkowskis Filmplots sind nicht besonders spektakulär, wenn man sie in einer Zusammenfassung liest. „Solaris“ folgt einer Gruppe Astronauten, die in einem Raumschiff einen Planeten umkreist, dessen großer Ozean eine Art Intelligenz ist, und der Inhalte aus dem Gewissen der Besucher materialisieren lassen kann. Die Astronauten drohen den Verstand zu verlieren. „Der Spiegel“ ist eine Mosaikfolge von nicht chronologischen Erinnerungen und Wochenschau-Ausschnitten, die sich in Farbe und schwarz-weiß abwechseln. Äußerlich geschieht nicht viel, weil das, was wichtig ist, sowohl bei den Hauptfiguren wie beim Zuschauer „innen“ abläuft.

Wie aber zeigt sich im Film, dass eine Geschichte sich eigentlich „innen“ abspielt? Bestimmt nicht dadurch, dass man Menschen darstellt, die still dasitzen und nachdenken. Der Trick ist es, Bilder zu finden, die es dem Zuschauer leicht machen, mitzureisen.

Tarkowskis letzter Film, den er in der Sowjetunion gedreht hat, heißt „Stalker“.  Fertig gestellt im Jahr 1979, fängt er an wie ein Unheil versprechender Science-Fiction Film: der Vorspann erklärt, es hätte vor Jahren einen Zwischenfall gegeben, vielleicht sei ein Meteor aufgeschlagen, oder Außerirdische seien gelandet. Genau wisse das niemand. Das Gebiet sei zur Sperrzone erklärt worden und niemand dürfe hinein. Der „Stalker“ (Aleksandr Kajdanowskij) ist einer der wenigen Menschen, die aus der Zone wieder zurückkehrten. Nur er kennt geheime Wege und weiß, wie man sich dort bewegen muss: ehrfurchtsvoll, wachsam und unberechenbar. Obwohl er dafür schon einmal lange im Gefängnis war, kann er es nicht lassen und führt Besucher gegen Bezahlung in die Zone. Diesmal nimmt er einen Schriftsteller (Anatolij Solonizyn) und einen Wissenschaftler (Nikolaj Grinko) mit, die gehört haben wollen, dass ein Raum in der Zone geheimste Wünsche erfüllen könne. Der Stalker weiß, wie man dorthin gelangt. Doch keiner der Drei wird unbeschadet davonkommen...

„Die Menschheit existiert nur, um schöpferisch zu sein“

Das Besondere an Stalker ist die Art, wie Tarkowski diese Geschichte erzählt. Anders als wir es erwarten würden, wird das Rätsel der Zone nie gelöst. Die Gruppe überlistet Militärpatrouillen sowie eine Sperre und fährt

auf einer Draisine in das Sperrgebiet. Mit dem Schriftsteller und dem Wissenschaftler wandern wir durch eine Landschaft, die vor langer Zeit bewohnt war und die die Natur sich zurückerobert hat. Schienen sind überwuchert, Räume halb verfallen, es liegen merkwürdige Dinge im Wasser. Der Stalker vermeidet gradlinige Wege und besteht darauf, mit jeder Besuchergruppe einen anderen Weg zu gehen. Er wirft Schraubenmuttern an weißen Bändern vor sich in das Gelände, vielleicht, um nach Minen zu suchen, vielleicht aber auch, um die Schwerkraft zu prüfen. Es gibt Schwellen zu überwinden. Ein Wolfshund taucht auf und legt sich zu den Schlafenden. Niemand darf zurückgehen. Nur Menschen ohne Hoffnung schaffen es durch den „Fleischwolf“, einen Tunnel, der aber harmlos aussieht. Als die Gruppe das Ziel erreicht, stellt sich heraus, dass einer der Drei nie die Absicht hatte, einen Wunsch zu äußern.

Tarkowski erzählt seine Geschichte in einer selbstsicheren Ruhe, die seinem Publikum genug Zeit lässt, die Bilder wirken zu lassen und zu verstehen, worum es geht. Als die drei Reisenden mit der Draisine in die Zone vorstoßen, überqueren sie auch die Grenze zwischen äußerer und innerer Welt. Wir spüren das, weil das begleitende Geräusch, das die Draisine auf den Schienen macht, sich langsam in den Rhythmus der Musik einbettet. Als Orientierung hat unser Auge nur die voneinander abgewandten Köpfe der Männer, die vor einer unscharfen Hintergrundlandschaft vorbeiziehen. Niemand sagt etwas. Es wird immer stiller. Zeit zum Betrachten und Fragen stellen. Unvermittelt hört die Bewegung auf, und das Bild, an dessen schmutzig braunes sepia wir uns schon gewöhnt hatten, ist schlagartig in Farbe. Wir, die Zuschauer, sind mit den drei Reisenden in einer anderen Welt angekommen: in der Welt unserer Vorstellungen, Wünsche, Ängste und Träume. Gibt es einen spannenderen Ort für einen Film?

„Stalker“ läuft mit dt. Untertiteln im Kino 1 des Arsenal (Berlin) am 3. August um 20 Uhr, und am 14. August um 19.30 Uhr.

Stalker-Musik:

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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