Foto: PhotoXPress, Lori / Legion Media, Geophoto, ITAR-TASS
Belosersk, eine der ältesten Städte Russlands, feiert im August ihr 1050. Jubiläum. Die Kreisstadt im Gebiet Wologda kann auf eine reiche Geschichte zurückblicken. Überlieferungen zufolge wurde der Ort erstmals im Jahre 862 als Bestandteil des Fürstentums von Fürst Sineus erwähnt. Sineus war der jüngere Bruder Rjuriks, jenes legendären Fürsten, dem der altrussische Staat und das Herrschergeschlecht der Rjurikiden ihre Entstehung verdanken.
Bereits seit etwa zehn Jahren gibt es auf dem Gelände des Belosersker Kreml ein Museum, das zu den außergewöhnlichsten des russischen Nordens zählt. Igor Rutschin, Gründer und Direktor des Museums, ist von Beruf Archäologe. In Belosersk, wohin es ihn aus dem ebenfalls im Gebiet Wologda gelegenen Tscherepowez verschlagen hat, gründete Rutschin zunächst den militärhistorischen Club Die Streiter des Sineus und versuchte, in der verschlafenen Kleinstadt die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zu fördern. So entstand nach und nach ein Museum, in dem sich heute vor allem handgefertigte Nachbildungen von Kleidungsstücken, Alltagsgegenständen und Waffen der Bewohner der Alten Rus vom 11. bis zum 14. Jahrhundert befinden. Igor Rutschin gab seinem Museum den passenden Namen Knjasheskaja gridniza (Fürstliche Mannenstube). Mannenstuben hießen an den Fürstenhöfen der Alten Rus jene Gemächer, in denen die Mannen, also die Heerschar und die Leibgarde des Fürsten, untergebracht waren.
Museumsbesitzer Rutschin lebt Tradition seiner Stadt
Ein Besuch im Belosersker Kreml und der Fürstlichen Mannenstube ist wie ein Exkurs in längst vergangene Zeiten. Von der Fremdenführerin, die die Besucher am Eingang in Empfang nimmt, wird Igor Rutschin stets ‚Fürst Igor Alexandrowitsch’ genannt. In das Gewand eines fürstlichen Kriegers gehüllt steht er in der Tür seines Museums und begrüßt die Gäste höchstpersönlich. Dieser erste Eindruck genügt um zu wissen, dass ein echter russischer Recke genau so ausgesehen haben muss: hünenhaft groß, breitschultrig, mit volltönender Stimme und durchdringenden blauen Augen. Der Aufzug eines Kämpen der Alten Rus wirkt an dem modernen Unternehmer Igor Rutschin erstaunlich natürlich.
Rutschin wird unterstützt von seiner Ehefrau Tatjana und den drei jüngeren Kindern, die ebenfalls historische altrussische Kostüme tragen. Der jüngste Sohn Gleb, gekleidet wie ein Fürstenspross, spielt seine Rolle mit sichtlichem Vergnügen und posiert gekonnt reglos, den Blick direkt in die Objektive gerichtet. Tatjana Rutschina demonstriert vor den Kameras die Feinheiten des fürstlichen Gewands und verbirgt dabei vorsorglich ihre Hände, damit ihre frisch lackierten Fingernägel nicht die moderne Frau von heute verraten.
Igor und Tatjana Rutschin haben insgesamt sechs Kinder. „Unsere älteste Tochter erwartet gerade ihr erstes Kind, unser ältester Sohn tritt demnächst seinen Wehrdienst an“, erzählt Tatjana, während sie vor den Museumsbesuchern Schmuckstücke im altrussischen Stil als Souvenirs ausbreitet.
„In unserem Museum darf man nicht nur alles anfassen, man soll sogar alles in die Hand nehmen und anprobieren“, erklärt Igor Rutschin stolz. „Alles, was Sie hier sehen, fertigen wir aus natürlichen Materialien, die auch schon von unseren Vorfahren verwendet wurden. Damit ein rotes Hemd entsteht, färben wir den Stoff mit einem Absud aus Eichenrinde. Natürlich ist das sehr aufwändig und kostspielig. Wir stecken unsere gesamten Einnahmen in das Museum. Uns finanziert niemand, “ so Rutschin mit einem Gesichtsausdruck der sowohl Enttäuschung als auch Kampfgeist verrät.
Foto: Ricardo Marquina
Belosersk erhält Markenzeichen
Vor einigen Jahren bekamen die Fürstlichen Mannenstuben einen Ableger, als Igor Rutschin auf dem weitläufigen Gelände des Belosersker Kreml ein weiteres Museum eröffnete. „Unser erstes Vorhaben hat uns förmlich beflügelt. Auf einmal wurde die Stadt interessant und Besucher kamen hierher. Was Belosersk noch fehlte, war ein eigenes Markenzeichen. Uns wurde vorgeschlagen, dem Beispiel von Weliki Ustjug zu folgen und auf mythische Gestalten zurückzugreifen. Aber bei unseren historischen Recherchen haben wir herausgefunden, dass Belosersk häufig von Wikingern besucht wurde, die die Stadt auf dem Handelsweg ‚von den Warägern zu den Arabern‘ durchreisten. Daraus entstand dann die Idee, ein Wikingerhaus zu errichten“, berichtet Rutschin.
Begleitet von rhythmischen Schlägen auf ein Metallschild singt Igor Rutschin mit sonorer Stimme Lieder in der Sprache der alten Wikinger. Die Besucher des Wikingerhauses haben die Möglichkeit, selbst in eines der Kleidungsstücke aus Tierfellen zu schlüpfen, Korn in einer Steinmühle zu mahlen oder das hausgebraute Bier zu kosten. Denn das Museum verfügt sogar über einen eigenen Braumeister und einen Schmied, der grobes Metall zu zierlichen Rosenblüten formt. Für Kinder gibt es ein Extraprogramm mit Bogenschießen und Speerwerfen. Belosersk ist keine Touristenhochburg, doch Igor Rutschins Museen locken jährlich etwa 10 000 Gäste an.
„Das ist natürlich kein Riesenansturm, doch in einer Stadt wie Belosersk
mit gerade einmal 10 000 Einwohnern beeindruckt diese Besucherzahl sehr wohl“, findet Igor Rutschin. „Vor Kurzem war der renommierte Archäologe Dan Carlsson von der schwedischen Gotland-Universität bei uns, sein Forschungsschwerpunkt sind die Wikinger in der Alten Rus. Carlsson hat es in unserem Museum so gut gefallen, dass er Belosersk offiziell in die internationale Touristenroute Auf den Spuren der Wikinger aufgenommen hat. Und er sagte zu mir: ‚Sorgen Sie für die entsprechende Infrastruktur und wir schicken Ihnen haufenweise Touristen. “
Aber bis jetzt gibt es in Belosersk keine Möglichkeit, ausländische Gäste zu betreuen. „ Und was können wir allein schon ausrichten? Unser Reisebüro Fürstenhaus ist das einzige in der Stadt und hat ganze drei Mitarbeiter. Wann immer wir mit der Stadtverwaltung zu tun haben, bitten wir darum, dass das Kreml-Gelände in Ordnung gebracht wird, damit die Besucher nicht durch Pfützen waten müssen. Aber manche hier in Belosersk sind der Meinung, dass das allein unsere Aufgabe sei. Sie sagen uns ins Gesicht: ‚Ihr macht doch Geld mit unserer Geschichte, also kümmert euch auch selbst um die Instandhaltung“, schildert Rutschin die Situation in einer Mischung aus Resignation, Ratlosigkeit und unerschütterlichem Optimismus.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitung Rossijskaja Gaseta.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!