Lisa Ryshich: "Selbst ist mir noch keine Medaille sicher. Wenn du gegen solche sportlichen Größen wie Issinbajewa, Stuczynski, Pyrek und Feofanowa antrittst, kannst du deine eigenen Chancen nur sehr schwer einschätzen." Foto: AP
Die 23-jährige Ryshich wurde in Omsk geboren, einer der größten Städte Sibiriens. Ihr Vater, Wladimir Ryshich, war ein bekannter Stabhochsprungtrainer und brachte in seiner Trainerlaufbahn zahlreiche Landes- und Weltmeister hervor. Doch der Zerfall der Sowjetunion bedeutete auch für die Familie Ryshich eine ernsthafte Veränderung ihres Lebens.
„An meine Kindheit in Russland kann ich mich nicht erinnern“, erzählt Lisa. „Jahre später erzählte mir mein Vater, wie er damals verzweifelt versuchte, weiter im Sportbereich zu arbeiten und deshalb zusätzlich irgendwelche Hilfsjobs annahm. Das war eine schwere Zeit für meine Familie, aber wir hielten deshalb erst recht zusammen. 1991, als ich gerade drei Jahre alt war, erhielt Papa ein Angebot aus Deutschland. Seine Berufung als Trainer wurde auf höchster Ebene abgesegnet und uns der Umzug vorgeschlagen.“
In Deutschland konnte sich Wladimir Ryshich wieder seinem Traumberuf widmen. Lisas ältere Schwester Anastasia ließ bereits im Kindesalter auf eine blendende Karriere als Stabhochspringerin hoffen. Und tatsächlich, Nastia trat bei der Hallen-Weltmeisterschaft 1999 in Tokio unter deutscher Flagge an und holte dort die Goldmedaille.
„Ich habe mir den Wettkampf zusammen mit meiner Mutter angesehen“, erinnert sich Lisa. „Als wir sahen, dass meine Schwester eine Konkurrentin nach der anderen hinter sich ließ, konnte wir unser Glück kaum fassen. Am nächsten Tag ging ich stolz erhobenen Hauptes in die Schule. Ich stürmte vor dem Klassenlehrer in den Unterrichtsraum und verkündete ganz laut, dass meine Schwester Weltmeisterin geworden ist.“
Ein Nachwuchsstar mausert sich
In diesem Augenblick wurde Lisa klar, dass sie die Familientradition fortsetzen musste. Unter Anleitung ihres Vaters begannen die Schwestern gemeinsam zu trainieren. Das Talent der Mädchen war auch
für Außenstehende zu erkennen. Nachdem sie in Deutschland mehrere Jugendwettbewerbe gewonnen hatte, begann Lisa Ryshich zu Wettkämpfen ins Ausland zu reisen. Den ersten internationalen Erfolg erzielte die junge Athletin 2003 bei der Junioren-Weltmeisterschaft im kanadischen Sherbrooke, bei der sie 4,05 m übersprang und sich damit Gold sicherte. Ein Jahr später gewann sie auch den internationalen Junioren-Wettbewerb im italienischen Grosseto. Und nach der Titelverteidigung im Jahr 2005 in Marrakesch, bei der sie sagenhafte 4,30 m hoch sprang, war der Nachwuchsstar im Stabhochsprung in aller Munde.
„Damals widmete mir die Presse große Aufmerksamkeit“, erinnert sich Lisa. „Meine Erfolge zeugten davon, dass ich für die Wettkämpfe der Großen bereit war. Man verglich mich schon mit Jelena Issinbajewa und sagte mir eine große Zukunft voraus. Aber in der Realität lief dann alles nicht so optimal. Ich war dem ganzen Druck einfach nicht gewachsen und in meiner Karriere gab es eine Stagnation. Davor haben alle Junioren Angst.“
Die Flaute konnte sie einige Jahre später überwinden. Wieder in Bestform konnte Lisa 2010 bei der Europameisterschaft in Barcelona ihr Können unter Beweis stellen. Mit ihrem Sprung über 4,65 m lieferte sie ein hervorragendes Ergebnis ab und sicherte sich die Bronzemedaille. Silber ging an ihre Landsfrau Silke Spiegelburg, die die gleiche Höhe mit weniger Versuchen übersprang. Für ihren Erfolg wurde Ryshich in Rheinland-Pfalz mit dem Titel ‚Sportlerin des Jahres’ geehrt.
Trotz Erfolgs keine Starallüren
„Bei der Europameisterschaft hatte ich den besten Sprung in meiner Karriere“, schätzt Lisa ein. „Aber Swetlana Feofanowa war an diesem Tag unbesiegbar und so konnten wir anderen nur den zweiten und dritten Platz unter uns ausmachen. Trotz ihres Alters ist Feofanowa für mich die Favoritin bei den Olympischen Spielen in London. Ich habe mit ihr auch sehr viel über die Vor- und Nachteile des russischen Sports diskutiert. Das Niveau im Stabhochsprung mag in meiner früheren Heimat zwar sehr hoch sein, aber ich hatte nie das Verlangen, dorthin zurückzukehren.“
Nach ihrer Ausreise nach Deutschland war Lisa nur ein paar Mal zu Besuch in Russland. „Ich habe viele Verwandte in Omsk und wir halten über das Internet Kontakt“, erzählt Lisa Ryshich. „Natürlich würde ich sie gerne häufiger sehen, aber das intensive Training und die häufigen Wettkämpfe lassen das nicht zu. Meine Schwester besucht Russland sehr oft. Als wir wegzogen war sie ja deutlich älter als ich und hat dort auch noch viele Freunde.“
Ihre Chancen auf eine olympische Medaille schätzt Lisa recht
bescheiden ein. „Ich hoffe sehr, meinen persönlichen Rekord wiederholen zu können“, so die junge Athletin. „Aber selbst dann ist mir noch keine Medaille sicher. Wenn du gegen solche sportlichen Größen wie Issinbajewa, Stuczynski, Pyrek und Feofanowa antrittst, kannst du deine eigenen Chancen nur sehr schwer einschätzen. Aber anderseits kann es im Sport immer Überraschungen geben. Ich möchte meine Eltern stolz und glücklich machen, so wie einst meine Schwester.“
Die Olympischen Spiele in London sind für Lisa der beste Anreiz, ihre persönliche Bestmarke zu überbieten. Dieses Mal werden die Konkurrentinnen im Stabhochsprung mit ihren Leistungen enger beieinander liegen als jemals zuvor in der Geschichte. Die Wettkämpfe im Stabshochsprung beginnen am 4. August. Es wird spannend!
Bereits seit den ersten Sommerspielen im Jahr 1896 zählt Stabhochsprung bei den Männern zu den olympischen Disziplinen. Doch erst seit den Olympischen Spielen in Sydney im Jahr 2000 tragen auch die Frauen unter sich aus, bei wem die Messlatte bei der größten Höhe noch liegen bleibt.
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