Bild: Niyaz Karim
Russische Wirtschaftswissenschaftler sind sich einig: Auf den Wertpapier- und Derivatemärkten sind in den vergangenen Jahren ‚Blasen’ entstanden, deren Zerplatzen katastrophale Auswirkungen auf die Realwirtschaft hätte. Die Volkswirtschaften der entwickelten Länder sind hoch verschuldet, die Kosten dafür tragen die armen Länder. Das ökonomische Ungleichgewicht nimmt zu, der weltweite Konsum konzentriert sich auf die reichsten 20 % der Bevölkerung (die sogenannten Golden Billion). Und in dieser Situation haben einige Länder die Macht, mit Hilfe einer Leitwährung die Weltwirtschaft zu lenken. Doch entsprechen diese scheinbar verheerenden Missstände auch der Realität?
Ende 2011 wurde die Kapitalisierung der globalen Wertpapiermärkte auf 47 Billionen US-Dollar oder 67 % des globalen Bruttoinlandprodukts beziffert. Im Jahr 1960 lagen diese Zahlen bei lediglich 2,9 Billionen US-Dollar, also 34 %. Infolge der Finanzkrisen der Jahre 2000 bis 2002 und 2008 bis 2009 sank die Kapitalisierung in den entwickelten Ländern um beachtliche 6,3 Billionen bzw. 10,2 Billionen US-Dollar. Die Realwirtschaft erwies sich jedoch als erstaunlich resistent gegenüber diesen Turbulenzen. So war in den Jahren 2000 bis 2002 kein Abwärtstrend zu verzeichnen, sondern das Gegenteil war der Fall. Die USA erreichten ein Wachstum von 7 %, die EU von 5,3 %. Die Krisenjahre 2008 und 2009 wiederum hatten einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 3,8 % in den USA und um 3,7 % in der EU zur Folge. Und dennoch wurden unter den Akteuren der Finanzmärkte weder Hoffnungslosigkeit noch steigende Selbstmordziffern beobachtet. Tatsächlich war dies seit Beginn der 30er-Jahre nicht mehr der Fall. Ein aufgeblähter Finanzmarkt kann einer Überhitzung der Realwirtschaft also sogar vorbeugen – ein durchaus positiver Effekt und kein gefährlicher Missstand.
In der Tat leben die Volkswirtschaften der entwickelten Länder auf Pump. Fakt ist jedoch, dass Verschuldung als wichtigstes Instrument des Wachstums gilt. Von 1960 bis 2010 stieg die Verschuldung der amerikanischen Haushalte und Unternehmen um mehr als das 37-fache. Das nominale BIP wuchs im selben Zeitraum um das über 28-fache und in der Wirtschaft wurden mehr als 73 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. In der EU nahm die Wirtschaftsleistung im privaten Sektor im selben Zeitraum effektiv um das 22-fache zu, das BIP stieg nahezu um das 17-fache und es entstanden über 10 Millionen neue Arbeitsplätze.
Unser Finanzsystem ist unter den gegenwärtigen globalen Bedingungen
die optimale Lösung. Das wird durch die Tatsache bestätigt, dass es in der Weltwirtschaft von heute keine Einbrüche gab, die vergleichbar wären mit denen der Krisen von 1907 und 1908, 1929 bis 1932 sowie 1973 und 1974. Unser Finanzsystem ermöglicht zwar eine Entstehung gewaltiger Blasen fiktiver Aktiva, doch deren Entwertung kann die Wirtschaft nicht ernsthaft erschüttern, da das nominal auf den Konten geführte Geld tatsächlich niemals existiert hat. Unser Finanzsystem erlaubt es, innerhalb weniger Tage aus dem Nichts heraus Billionen beliebiger Geldeinheiten zu erzeugen, mit denen schwere wirtschaftliche Einbrüche aufgehalten und eine erneute globale Depression verhindert werden können.
Das ungedeckte Geld kurbelt den Konsum und die Produktion an und die dadurch entstehenden internationalen Ungleichgewichte eröffnen neue Perspektiven für die Entwicklungsländer. Dabei sind die Länder, die Leitwährungen emittieren, praktisch dazu gezwungen, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Schließlich haben sie den Investoren zugesichert, große Mengen des gedruckten Geldes in Umlauf zu bringen. Bei einer Umwandlung des Geldes durch die Investoren in Aktiva steigt der Geldwert und das Gleichgewicht wird wiederhergestellt. Hinter den vermeintlichen Ungleichgewichten verbirgt sich also ein überraschend ausbalanciertes und stabiles Finanzsystem. Die gegenwärtige Krise in der Eurozone ist keinen inneren Widersprüchen geschuldet, sondern der Unentschlossenheit der Europäer beim Einsatz der ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente.
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Marktwirtschaften können sich nur durch Konjunkturzyklen entwickeln. Auf den ersten Blick treibt unser aktuelles Finanzsystem die Amplituden dieser Zyklen zu Extremwerten. Tatsächlich aber hilft es dabei, den realen Sektor relativ unversehrt zu erhalten und ermöglicht ihm eine nachhaltige Entwicklung.
Die Regulierung der Währungsemission auf globaler Ebene soll die Weltwirtschaft dazu veranlassen, nicht mehr über den eigenen Verhältnissen zu leben. Der Konsum wird dadurch in den USA und in den Ländern der EU jedoch mindestens um die Höhe ihres Nachfrageüberhanges zurückgehen, das heißt um jährlich eine Billion US-Dollar. Die Wirtschaft wird pro Jahr vier bis fünf Prozent ihrer Leistungsfähigkeit einbüßen. Die Wertpapiermärkte verlieren über die Hälfte ihres Wertes, da die Akteure des Finanzsektors ihre wechselseitigen Forderungen reduzieren und riskante Aktiva verkaufen werden. Rohstoffpreise sinken auf die Hälfte oder um ein Viertel des aktuellen Standes. Die Regierungen werden die Unternehmen nicht weiter mit der Leichtigkeit unterstützen können, wie es ihnen heute möglich ist.
Die Zeit nach der Jahrtausendwende war geprägt von heftigen Verwerfungen auf den Finanzmärkten. Dennoch erreichten die Entwicklungsländer ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von jährlich 6,2 % gegenüber 2,1 % in den Industrienationen. Der Gesamtwert der an die erste Welt verkauften Rohstoffe stieg von jährlich 0,4 auf 2,1 Billionen US-Dollar. In den am höchsten entwickelten Ländern entstanden knapp 10 Millionen Arbeitsplätze, während es in den Entwicklungsländern 230 Millionen waren. Die Verluste der Anleger zogen jedoch im Gegensatz zu den 30er-Jahren keine Erschütterungen der Finanzmärkte in den entwickelten Ländern nach sich. Weder ging das BIP zurück, noch sank der Lebensstandard der Bevölkerung.
Das nach 1971 entstandene ‚ungerechte’ und ‚unbeherrschbare’
Finanzsystem ermöglichte den Entwicklungsländern den industriellen Aufstieg. Den entwickelten Industrienationen erlaubte es wiederum, ihr Entwicklungstempo beizubehalten und Zentrum technologischer Innovationen zu werden. Insbesondere die USA und Europa waren seit den 90er-Jahren die Zugpferde anderer Wirtschaften. Von wirtschaftlichen Einbrüchen und Problemen waren vor allem jene Länder betroffen, die ihre Währungen quasi-konvertierbar machen und an den Dollar koppeln wollten. Die Folgen dieser Strategie fielen im Jahr 1997 auf die asiatischen Staaten, im Jahr 1998 auf Russland und im Jahr 2001 auf Argentinien zurück. Manövrierfreiheit ist heute wertvoller als die Vorzüge scheinbarer Stabilität.
Wie ungerecht auch immer das globale Finanzsystem unserer Zeit erscheinen mag, jede Alternative wäre weniger effektiv. Wirtschaft baut letztendlich auf Effektivität auf, nicht auf Gerechtigkeit. Wer aufgrund spekulativer Annahmen dieses System zu demontieren beginnt, wird erfahren, dass dadurch zwar die wirtschaftliche Effektivität schwindet, aber kein Mehr an Gerechtigkeit entsteht. Unter all den Möglichkeiten zur Regulierung der Finanzmärkte gibt es deshalb keine überzeugende Alternative zum derzeitigen System.
Die vollständige Fassung des Textes ist in der Zeitschrift Ogonjok Magazin nachzulesen.
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