Im Süden Russlands, wo die wichtigsten Getreideterminals liegen, steigen die Preise sehr schnell. Foto: ITAR-TASS
Wie der Präsident der Russischen Getreideunion und Sprecher der russischen Getreideexporteure Arkadi Slotschewski erläutert, sind mehrere der traditionellen Kornkammern Russlands betroffen. Dazu zählen nach Aussage des Experten die Regionen Kuban, Stawropol, Wolgograd, die Wolgaregion, Rostow am Don, Lipezk, Pensa, Uljanowsk, Kurgan und Altai.
„Was die übrigen Regionen betrifft, müssen wir nicht unbedingt von ernsthaften Einbrüchen ausgehen. Gefährdet sind sie auch, es bestehen aber reale Möglichkeiten, diese Risiken abzuwenden", so Slotschewski. Die Ernte sei davon abhängig, ob alle witterungsbedingten Risiken eintreten oder ob das Wetter gnädig gestimmt ist und es Regen gibt.
Der Präsident der Getreideunion bleibt trotz allem optimistisch. Nach seiner Einschätzung fallen die Prognosen des Ministeriums düsterer aus als notwendig. Slotschewski rechnet mit einer Ernte von 85 Millionen Tonnen. Berücksichtigt man noch die Bestände aus früheren Ernten, könnte das Exportpotenzial 18 bis 20 Millionen Tonnen erreichen. Das wäre zwar immer noch weniger als im Vorjahr, in dem Russland über 26 Millionen Tonnen Getreide ausführte, jedoch kein Vergleich zum Jahr 2010. Damals hatten die Dürre und die Waldbrände Russland ein Drittel der Getreideernte gekostet und den damaligen Premierminister Wladimir Putin zu einem Exportembargo gezwungen.
Indessen teilen nicht alle russischen Experten den Optimismus von Arkadi Slotschewski. Nach Einschätzung des Leiters der Marktanalyseabteilung des Instituts für Agrarkonjunktur Oleg Suchanow kann in Russland in diesem Jahr mit einer Ernte von lediglich 77 Millionen Tonnen gerechnet werden. „Und dabei sind wir noch nicht einmal von der ungünstigsten Entwicklung ausgegangen“, bemerkt der Analytiker.
Getreideexport um die Hälfte zurückgefahren
Die Zahl kommt dem jährlichen Getreideverbrauch von 67 bis 72 Millionen Tonnen in Russland gefährlich nahe. Im Institut für Agrarkonjunktur wird davon ausgegangen, dass auch unter Berücksichtigung der Getreidereserven das Exportpotenzial im neuen Geschäftsjahr maximal 13,6 Millionen Tonnen betragen wird.
Hauptabnehmer der russischen Getreidexporte sind die Länder des
Nahen Ostens und Nordafrikas. Im vergangenen Jahr kamen noch Handelspartner aus Südostasien hinzu, mit denen russische Exporteure bereits im Jahr 2010 über Lieferungen verhandelt hatten. Wegen des Embargos wurde der Abschluss der Verträge jedoch aufgeschoben. „Wir führen in der Tat nur die Hälfte des im vergangenen Jahr erzielten Exportvolumens aus. Aber das ist kein langfristiger Trend. Wenn wir im nächsten Jahr eine gute Ernte haben, nimmt Russland wieder eine führende Position unter den internationalen Getreideexporteuren ein“, ist Suchanow überzeugt.
Bei der Getreideproduktion verfolgt Russland überaus ehrgeizige Pläne. Nach der neuen Fassung des staatlichen Programms zur Entwicklung der Landwirtschaft von 2012 soll die Bruttoernte bis 2020 auf 115 Millionen Tonnen steigen. Damit würde sich Russland den USA nähern, dem traditionellen Spitzenreiter des Weltmarkts für Getreide.
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Weiterer Preisanstieg zu erwarten
Die russischen Prognosen werden die Weltmarktpreise für Getreide wahrscheinlich deutlich beeinflussen. Auch wenn weltweit von keinem kritischen Defizit gesprochen werden kann, haben die großen Getreideproduzenten USA, Russland, Ukraine, Kasachstan und China allesamt mit Problemen zu kämpfen. So erklärt sich auch das hohe internationale Preisniveau, das derzeit bei etwa 330 US-Dollar je Tonne Speiseweizen liegt. Nach Einschätzung Suchanows ist bis zum Jahresende eine Preissteigerung um weitere 10 % denkbar.
Im Süden Russlands, wo die wichtigsten Getreideterminals liegen, steigen die Preise im Vergleich zum Weltmarkt sogar noch schneller. Das dort angebaute Getreide wird direkt für die Binnennachfrage und den Export abgesetzt, für den weiteren Bedarf muss Ware aus weit entfernten nördlichen Regionen herangeschafft werden. Der Präsident des Nationalen Verbandes der Getreideproduzenten Pawel Skurichin rechnet deshalb ebenfalls mit Preissteigerungen sowohl auf dem Welt- als auch auf dem Binnenmarkt. Bei Brot, Fleisch und anderen Lebensmitteln seien höhere Preise jedoch nicht zu befürchten, da der Getreideanteil bei diesen Endprodukten nicht sonderlich hoch ist. Russisches Brot enthält im Durchschnitt lediglich 23 % Getreide.
Der Dürre kann Russland bislang nichts entgegensetzen. Sogar zur sozialistischen Zeiten, als eine Menge Geld und Arbeit in die Entwicklung der Landwirtschaft floss, wurde nur ein verschwindend geringer Anteil der Felder einer regelmäßigen Bodenverbesserung unterzogen. Den damals etwa 4 Millionen Hektar stehen heute sogar nur 2,5 Millionen Hektar gegenüber. Dabei wurde in diesem Jahr auf insgesamt 44 Millionen Hektar Land Sommergetreide angebaut. „Die Verluste kommen nicht nur durch das Wetter zustande, sondern vor allem durch den schlechten Einsatz von Technik unter schwierigen Witterungsbedingungen“, stellt Slotschewski fest.
Die Bauern selbst führen die schlechten Ernteergebnisse auch auf die wirtschaftlichen Bedingungen zurück. Nach Aussage von Pawel Skurichin musste die Mehrheit der Getreideproduzenten ihren Kreditrahmen in den vergangenen vier Jahren deutlich erhöhen. Es mangelt an Betriebsmitteln, ein Teil der russischen Landwirtschafsbetriebe befindet sich auf dem Weg zur Insolvenz.
Obwohl Russland im Jahr 2010 bereits die Möglichkeit von
Getreideexporten nach Lateinamerika auslotete, sind nach dem Wissen der Experten bislang keine festen Verträge zustande gekommen. Dem Handel mit Lateinamerika stehen, so Slotschewski, vor allem die hohen Entfernungen im Weg. Mit einem großen und deutlich näher liegenden Getreideproduzenten wie Argentinien kann Russland kaum konkurrieren. Ein weiteres Hindernis für russische Getreideexporte nach Brasilien und Chile sind strittige Punkte bei den phytosanitären Standards.
Nach Auffassung von Oleg Suchanow eignet sich das russische Getreide ohnehin nicht für den südamerikanischen Markt. Russland hat traditionell eine starke Position beim Export von Getreide niedrigerer Qualität, die hochwertigen Sorten bleiben im Land. Dieses Vorgehen stelle zwar die Abnehmerländer in Nordafrika und Nahost zufrieden, mit Sicherheit aber nicht Südamerika. Dort wird der festkörnige Weizen aus den USA und aus Kanada nachgefragt.
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