Es verknäulten sich Ross und Reiter

In diesem Jahr ist es 200 Jahre her, dass die russische Armee im Großen Vaterländischen Krieg den Sieg über die Truppen Napoleons errang. Bereits im März begannen in Russland die Jubiläumsfeierlichkeiten. Einer der großen Höhepunkte war kürzlich die militärhistorische Nachstellung der Schlacht von Walutino (Lubino) bei Smolensk vom 6./7. August 1812, die den Auftakt für die Schlacht von Borodino am 7. September 1812 gab.

Foto: Olga Lissinova / RG

Das von Traditions- und Trachtenvereinen, von militärhistorisch Interessierten sowie von Komparsen detailgetreu rekonstruierte Schauspiel ist bereits eine gute Tradition, die alljährlich im Sommer bei Smolensk im Kreis Kardymowskij stattfindet. Gilt doch diese Schlacht als eine der wichtigsten des Vaterländischen Krieges, weil sich die russischen Truppen in deren Ergebnis am Dnepr vereinigten, nachdem es Napoleon nicht gelungen war, einen Keil zwischen drei russische Armeen zu treiben.

Die Nachstellung im Jubiläumsjahr war etwas ganz Besonderes. Über tausend Aktive aus ganz Russland und dem Ausland waren angereist, um die Schlacht nachzuspielen und möglichst viele Details aus jener Epoche nach historischem Vorbild zu rekonstruieren.  Sie einte ihre gemeinsame Begeisterung für die Geschichte des Krieges im Jahre 1812.

Dann kam ihr Auftritt: Innerhalb von eineinhalb Stunden wurden für Tausende von Zuschauern Feuergefechte vorführt, die in dieser Art vor zwei Jahrhunderten stattgefunden hatten. Natürlich wurden nur ausgewählte Bewegungen gezeigt, und auch das Schlachtfeld sowie die Anzahl der Akteure waren im Vergleich zum historischen Vorbild um einige Dimensionen kleiner. Doch die Statisten gingen mit Verve zur Sache, die Gewehr- und Kanonensalven donnerten derartig heftig, dass den Zuschauern die Ohren dröhnten. Und über das Schlachtfeld zog echter Pulverdampf. Die Kavallerie griff befestigte Redouten an und führte schwierige Manöver an der Flanke aus. Die Infanterie, die sich im Karree aufgestellt hatte, setzte sich mit Bajonetten zur Wehr. Es war glaubhaft, dass sie eher sterben als weichen wollte. Es kam zu heißen Gefechten, russische Soldaten attackierten mit Lanzen und Heugabeln, Marketenderinnen kümmerten sich um die Verwundeten. Dann wurde General Gudin tödlich verwundet, und die Franzosen nahmen General Tutschkow gefangen...

Die Schlacht endete allerdings nicht so wie vor 200 Jahren. Die an der  Rekonstruktion beteiligten Akteure blieben heil und gesund und hatten

die Kampfhandlungen rasch vergessen. Danach begann der feierliche Teil der Veranstaltung. Man versammelte sich gemeinsam mit führenden Vertretern des Staates und des Klerus sowie Vertretern der französischen Botschaft um ein frisch ausgehobenes Grab und gedachte der 28 russischen, französischen und portugiesischen Soldaten, deren Überreste man erst kürzlich auf dem Schlachtfeld fand. Nach den russisch-orthodoxen und katholischen Gebeten wurden die Überreste dieser unbekannten Soldaten an jenem großen Krieg feierlich beigesetzt. Danach wurde zum Gedenken an dieses einzigartige Ereignis auf der Anhöhe von Lubino eine Erinnerungstafel enthüllt.  

Was bei diesem imposanten Ereignis vielleicht noch mehr zählt, war die noch nie dagewesene Anzahl von Zuschauern! Selbst der Regen tat deren Begeisterung keinen Abbruch. Auf der Straße, die zum Ort des Spektakels führte, rollte stundenlang eine kilometerlange Autokarawane, und alle Stadt- und Reisebusse aus Smolensk reichten nicht aus, um alle Zuschauer auch rechtzeitig zur Vorführung zu bringen.   

Eine wichtige Person für die Feierlichkeit war Oleg Sokolow, Präsident der Allrussischen Bewegung für Militärgeschichte und Initiator der Rekonstruktionen historischer Schlachten in Russland. Er tritt in Lubino (Walutino) traditionell als Marschall Ney auf. Er war des Lobes voll über die Nachstellung in diesem Sommer, gleichwohl seine Wünsche und Vorstellungen nicht vollständig umgesetzt werden konnten: "Wir hatten weitere große Veranstaltungen vorgeschlagen, die gleichzeitig hätten stattfinden müssen. Beispielsweise hätten einige wichtige Momente des Vaterländischen Krieges auf weißrussischem Gebiet stattfinden müssen. Und die Schlacht bei Lubino hätte in viel größerem Maßstab erfolgen müssen." Doch das Problem lag wohl neben dem Geld auch an der Gesamtkoordination zwischen den militärhistorischen Inszenierungen in Borodino und Lubino sowie anderen Orten.

"Jede Geschichte birgt stets Momente, in denen die Menschen aus unterschiedlichen Gründen ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge konzentrieren und dabei andere, bisweilen sehr wichtige Ereignisse vergessen," meint Sokolow." Im heutigen russischen Geschichtsbewusstsein besteht der ganze Krieg von 1812 eigentlich nur aus der Schlacht von Borodino - gerade so, als ob die Franzosen nur dort vom Himmel gefallen wären… Es gab die Schlacht von Borodino. Dann ist Moskau in Flammen aufgegangen. Und dann war Schluss! In Wirklichkeit ist ein Krieg eine lange Folge von dramatischen Ereignissen." Sokolow: "Die Schlacht bei Smolensk (Lubino) spielte im Vaterländischen Krieg aber eine ganz bedeutende Rolle."

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