Bild: Natalia Mikhaylenko
Ungewöhnlich schnell begann der gerade vereidigte ägyptische Präsident Mohammed Mursi mit der Umgestaltung der politischen Landschaft. Für erste Überraschung sorgte die Entlassung zweier führender Junta-Vertreter: des Verteidigungsministers Hussein Tantawi und des Generalstabschefs Sami Annan. Und auch die Aufhebung der Verfassungsänderungen, die der Armee erweiterte Vollmachten übertrugen, ist Ausdruck der neuen politischen Brise in Ägypten. Offensichtlich haben die Moslembrüder nicht die Absicht, Kompromisse mit der alten Macht einzugehen.
Mit 80 Millionen Einwohnern ist Ägypten das bevölkerungsreichste Land der arabischen Welt und Kairo historisch eine der führenden Hauptstädte der Region. Was dort geschieht, hat in der Regel einen prägenden Einfluss auf die politische Entwicklung der gesamten Staatengemeinschaft. Insbesondere der Sturz Hosni Mubaraks vor anderthalb Jahren wurde zum Katalysator des Arabischen Frühlings.
Doch welche politische Hauptströmung der arabischen Welt wird sich in Ägypten durchsetzen? Bei einer Regierung nach türkischem Vorbild läge die Herrschaft in den Händen modernisierungsbereiter Militärs oder der gemäßigten, vergleichsweise progressiven Islamisten. Dem gegenüber standen die Gründung eines radikal-islamischen Staates à la Iran oder aber das algerische Regierungsmodell. Dieses würde die brutale Unterdrückung der demokratisch gewählten, gemäßigten Islamisten durch das Militär bedeuten.
Die Gründung eines Staates nach dem Vorbild der kemalistischen Türkei des 20. Jahrhunderts erwies sich aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen schnell als abwegig. In der Türkei agierten die Militärs nach dem Zusammenbruch des Imperiums als Erneuerungskraft, in Ägypten verkörpern sie – trotz ihres Versuchs, sich von Mubarak abzugrenzen – das alte Regime.
Auch das iranische Szenario wurde schon bald als eher
unwahrscheinlich betrachtet. Das politische System des Irans hat eine stark schiitische Ausrichtung und selbst wenn es in Ägypten zur Etablierung einer islamischen Staatlichkeit käme, hätte diese eine andere Gestalt. Die Option eines islamischen, seinem Wesen nach jedoch demokratischen Modells bleibt indes bestehen. Das betonen jedenfalls die Moslembrüder, um sowohl den liberalen Teil der ägyptischen Gesellschaft als auch den Westen zu beruhigen.
Eine Lösung nach algerischem Vorbild ist jedoch ebenfalls möglich. Gespannt wird derzeit auf die Reaktion der Militärspitze auf Mursis Attacke gewartet. 1991 annullierte die algerische Armee die Ergebnisse der Wahlen, bei denen die Islamische Rettungsfront gesiegt hatte. Die Militärs verhinderten damit den Machtantritt der Islamisten, lösten aber gleichzeitig einen zehnjährigen Bürgerkrieg aus. Mehr als einhunderttausend Menschen kamen dabei ums Leben. Doch in den vergangenen 20 Jahren hat sich vieles verändert: Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zeigen, dass die ägyptische Gesellschaft Demokratie und Veränderungen fordert. Ein Militärregime hätte damit nur wenig Rückhalt.
Zeitbombe Iran
Wenn die Moslembrüder und Mohammed Mursi ihre Macht konsolidieren, könnte das der Beginn einer tiefgreifenden Umverteilung der Kräfte und des Einflusses im Nahen Osten sein. Die USA verfügen natürlich über ein Druckmittel in Gestalt von zwei Milliarden Dollar, die Washington Kairo seit Abschluss der Vereinbarungen mit Israel gewährt hat. Mit Blick auf die schwierige ägyptische Wirtschaftslage wäre es abwegig, wenn die Regierung der Moslembrüder auf das Geld verzichten würde.
Im Zuge einer grundlegenden geopolitischen Umstrukturierung ist jedoch auch eine stärkere Orientierung des Landes auf andere Sponsoren
denkbar. Die führenden Akteure des Arabischen Frühlings sind die Monarchen des Persischen Golfs, deren Einfluss in den letzten anderthalb Jahren stetig zunahm. Ihr finanzielles Potential ermöglicht es den Erdölkönigreichen, Ägypten in vergleichbaren Größenordnungen wie die USA unter die Arme zu greifen.
Die größte Spannung geht derzeit vom Iran aus. Für fast alle Regionalmächte besitzen die Abwendung der Gefahr, die von Teheran und seinen Atomwaffen ausgeht und die Reduzierung des iranischen Einflusses oberste Priorität. Es ist unwahrscheinlich, dass einer der heutigen Akteure im Nahen Osten das Risiko eingeht, einen Krieg mit dem jüdischen Staat zu provozieren. Die allgemeine Erosion der Verhaltensregeln kann jedoch zu einer Serie von Zwischenfällen entlang der israelischen Grenzen führen und das Land in eine latente Konfrontation mit allen Nachbarn hineinmanövrieren.
Solange die Causa Iran besteht, decken sich die Interessen der konservativen Monarchen, der revolutionären Regimes, der USA und Israels. Wird das Problem jedoch gelöst, hat das aus der Situation heraus geborene stille Einvernehmen Saudi-Arabiens und Israels mit Sicherheit ein Ende. Alles wird dann vom inneren Zustand Ägyptens und von seiner Orientierung nach außen abhängen.
Die ungekürzte Fassung des Beitrags erschien zuerst bei gazeta.ru.
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