Freiwillige ehrenamtliche Tätigkeit: Eine helfende Hand

Volontäre sortieren auf der Aussichtsterasse der Moskauer Universität humanitäre Hilfe, die für Opfer der Flut in der Region Kuban gesammelt wurde. Foto: Alexander Utkin / RIA Novosti

Volontäre sortieren auf der Aussichtsterasse der Moskauer Universität humanitäre Hilfe, die für Opfer der Flut in der Region Kuban gesammelt wurde. Foto: Alexander Utkin / RIA Novosti

Die Flutkatastrophe von Krymsk Anfang des Monats Juli ist noch allen in schrecklicher Erinnerung.

Nachts kamen von den 60.000 Einwohnern über 170 in den bis zu sieben Metern hohen Fluten um, die sich nach Dauerregen plötzlich ins Tal stürzten. Das Unglück zog  hohen Sachschaden und allgemeine Verwüstung nach sich. Gleichzeitig machte die Medienberichterstattung auf etwas aufmerksam, das einem sonst nicht aufgefallen wäre: Überall packten Freiwillige mit an. Eine Woge der Solidarität linderte die größte Not der Opfer.

Nach Krymsk, der Stadt, die am meisten unter der Flut gelitten hatte, kamen Menschen aus dem ganzen Land. Viele sagten ihren Urlaub am nahe gelegenen Schwarzen Meer ab und reisten nach Krymsk, um die Ärmel hochzukrempeln. Freiwillig halfen sie, den Schutt zu beseitigen, aufzuräumen und die Versorgung mit Trinkwasser und Lebensmitteln sicherzustellen. Ortsansässige berichteten den Medien, dass sehr viel mehr Freiwillige im Einsatz waren als noch 2002, als schon einmal eine Flutwelle die Stadt heimgesucht hatte.

Gemäß Untersuchungen des Lewada-Zentrums, des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstituts, ist das kein Zufall, sondern Ausdruck einer erfreulichen Entwicklung. Boris Dubin, Leiter der soziopolitischen Forschung des Zentrums, erklärt das so: „Nach der oktroyierten "Freiwilligkeit" in der Sowjetunion erlebte die Mehrzahl der Bürger in der Anfangs- und Übergangszeit des neuen Russlands erniedrigende und erdrückende persönliche Armut, die kaum Platz ließ, sich um andere zu kümmern.  Im Vordergrund stand ausschließlich das eigene Überleben. Doch nun haben die Russen nicht nur einen höheren Lebensstandard gewonnen, sondern werden durch die neu entstandenen Freiheiten motiviert, auf andere Menschen zuzugehen." Gegenseitiges Verständnis, Solidarität, Toleranz, Interesse und positive persönliche Aussichten der Russinnen und Russen hätten insgesamt zugenommen. Davon profitiere die ehrenamtliche und freiwillige Arbeit.

Und ein anderer Umstand ermöglichte es, in kurzer Zeit so viele Helfer zu mobilisieren: Die neuen Medien, allen voran das Internet mit seinen "Social Communitys". Sie vereinfachen die Organisation und Koordination freiwilliger Tätigkeit ganz enorm. Gleichgesinnte können sich austauschen und auf gemeinsame Ziele hinarbeiten.

Eine historische Entwicklung

Zu Sowjetzeiten galten unentgeltliche, freiwillige Arbeitseinsätze oft als „freiwilliger Zwang“, weil sie von Betrieb oder Partei angeordnet wurden ("Subbotnik", vom Wort Samstag, an dem oft solche Maßnahmen angesetzt wurden). Ein Fernbleiben konnte unangenehme Konsequenzen haben: Man musste damit rechnen, sich vor Gremien verantworten zu müssen oder von bestimmten Aktionen ausgegrenzt zu werden. Kurz: Jegliche Form von freiwilliger Tätigkeit war strikt reglementiert. Dann kamen die „wilden 90er“ der Übergangszeit, als in Russland der zynische Individualismus seine Hochblüte erlebte und persönlicher Reichtum als höchstes aller Ziele galt.

Im heutigen Russland schließen sich die Menschen ohne äußeren Zwang zu Freiwilligenorganisationen zusammen, weil sie erkennen, dass sie – trotz verschiedenster individueller Beweggründe – gemeinsam etwas bewirken können. Es findet eine Rückkehr zu einem übergeordneten Gemeinschaftssinn statt, diesmal jedoch ohne staatlichen Druck.

Irina Mersijanowa, Direktorin des Zentrums für Gesellschaftsstudien und Expertin für den Non-Profit-Sektor an der Hochschule für Wirtschaft in  Moskau, hat festgestellt, dass neben schlagzeilenträchtigen Ereignissen wie der Flut von Krymsk auch abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit viel freiwillige Arbeit geleistet wird. „Es gibt viele Volunteers, die Tag für Tag ehrenamtlichen Dienst leisten“, sagt Mersijanowa und fügt hinzu, dass Freiwillige heute einen bedeutenden Teil der Zivilgesellschaft ausmachen.

Zeit und Kraft investieren

Die Aktivitäten von Freiwilligen reichen von Einmal-Aktionen bis zu langfristigen und regelmäßigen Diensten. So erfordert der ehrenamtliche Einsatz in Waisenhäusern oder Altersheimen ein langfristiges soziales Engagement. Helfer und Bedürftige müssen einander kennenlernen, eine Beziehung zueinander aufbauen und vertrauen können.

Die Moskauer Freiwilligenorganisation "Wwerch" („Aufwärts“) hilft beispielsweise Teenagern, die unter staatlicher Obhut oder in sogenannten „Problemhaushalten“ leben, bei der Vorbereitung auf ein unabhängiges Leben. Die Kinder bekommen kostenlos Nachhilfe, bereiten sich auf ihr Examen vor, nehmen an Diskussionsrunden oder kulturellen Aufführungen teil und gewinnen neue Freunde.

Ein anderes Freiwilligenprojekt, das auch international bekannt und tätig ist, ist das "Großer-Bruder-große-Schwester-Programm". Junge Menschen nehmen hierbei Kontakt zu Waisenkindern oder behinderten Kindern auf. Sie verbringen ihre Freizeit mit ihnen zusammen und tragen so zur Integration und Sozialisierung der Benachteiligten und Behinderten bei.

Die langfristigen Projekte sind ein Beleg dafür, dass Volunteer-Dienst kein vorübergehender Trend ist, sondern ein wichtiger Meilenstein in Entwicklung der russischen Zivilgesellschaft.

Sorgen über die gesetzliche Lage

Doch freiwillige Tätigkeit hat auch ihre Tücken. Wer trägt die Kosten, wenn ein Unfall passiert? Wie und wo ist man als Volunteer versichert?

Ein Gesetz über Freiwilligenarbeit soll das demnächst beantworten. Laut Entwurf müssen Freiwillige mit „ihrer“ Organisation in einem Vertragsverhältnis stehen. „Wir brauchen ein Gesetz, das die Freiwilligenarbeit in unserem Land fördert, und nicht eines, das die ehrenamtliche Tätigkeit durch Bürokratie und Regulierungen erstickt“, meint Irina Mersijanowa. Sie schätzt, dass nur etwa drei Prozent aller Russen freiwilligen Dienst bei Non-Profit-Organisationen tun. Doch mindestens ein Drittel der Bevölkerung sei in der einen oder anderen Form als Freiwilliger tätig. Diese Menschen wollen weder besondere Medienaufmerksamkeit noch sich registrieren lassen, sondern einfach nur unentgeltlich helfen.

Wie der Oppositionspolitiker Ilja Ponomarjow argwöhnt, sei der Gesetzentwurf nur eine Reaktion darauf, dass Freiwillige durch ihre Arbeit den Staat oft schlecht aussehen lassen. Durch sie wird die Ineffizienz der staatlich organisierten Hilfe bloßgestellt, wie zum Beispiel jüngst in Krymsk.

Stimmen von Freiwilligen

Daria Alexejewa, Entwicklungsbeauftragte bei "Wwerch":

„Nach den Waldbränden von 2010 hat die Freiwilligenbewegung in Russland deutlich zugenommen. Die Menschen spürten, dass es besser ist, zusammenzugehen und einander zu helfen. Für viele Menschen wurde die gemeinsame freiwillige Hilfe zu alltäglicher Normalität.“

Maria Gowjasina, Mentorin im "Großer-Bruder-große-Schwester-Programm":

„Es ist erstaunlich, wie sich die Psychologie von Waisenhauskindern von der von Kindern mit Elternhaus unterscheidet. Die Werte sind verschoben, und das Verständnis der zwischenmenschlichen Beziehungen ist anders. Den Waisen steht ein Leben in einer Gesellschaft bevor, in der sich kaum jemand wieder in sie hineinversetzen wird. Seit ich als Freiwilliger in diesem Programm mitarbeite, ist meine Bereitschaft ein Kind zu adoptieren, massiv gestiegen."

Anastasia Fjodorowa, Chefkoordinatorin bei "ICEF-Outreach":

„Für mich begann alles mit einer Reise zu einem Waisenhaus im Dorf Jelatma in der Nähe der Stadt Rjasan. Zufällig stolperte ich im russischen sozialen Netzwerk "Wkontaktje" über eine Gruppe, die eine Reise in ein Waisenhaus plante. Ich schloss mich der Gruppe an. Mit den Waisen organisierten wir ein Wirtschaftsspiel. Den Kindern waren elementare Begriffe und Mechanismen völlig unbekannt. So hatten sie noch nie gehört, dass man Geld in einer Bank aufbewahren kann. Wir spürten ihre Dankbarkeit, etwas Neues zu lernen. Das schlägt das Herz eines Freiwilligen höher!“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitung The Moscow News.

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