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Seit ihren Anfängen verkörpert die Literatur in Russland das Gewissen der Nation, der Schriftsteller gilt als moralische Instanz, der ausspricht, was politisch nicht gelebt werden darf. Das künstlerische Wort erfreute sich nicht nur eines hohen Stellenwertes im Volk, sondern wurde auch als hohes Gefahrenpotential von den Machthabern gefürchtet, zensiert oder verboten - von Puschkin und Gogol über Dostojewski bis zu Solzhenizyn. Solange die offizielle Geschichtswissenschaft Wahrheiten verzerrt oder verschweigt, kann die Literatur sich ihnen erzählend nähern. Ulitzkajas neuer Roman Das grüne Zelt setzt da ein, wo Anatoli Rybakows großer Perestrojka-Roman Die Kinder vom Arbat aufhört: bei Stalins Tod. Der vorzüglich von Ganna-Maria Braungardt übersetzte Roman ist eine Warnung vor einer Rückkehr zu stalinistischen Strukturen, vor einer Verklärung der „ruhmreichen sowjetischen Vergangenheit“ und vor Obrigkeitshörigkeit. Er bietet dem Leser tiefe Einblicke in die Lebenswelten und Zwangslagen von Menschen in einem totalitären Staat, die sich für geistige Freiheit und soziale Gerechtigkeit einsetzen.
Ljudmila Ulitzkaja, DAS GRÜNE ZELT Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Carl Hanser Verlag München, 2012 |
Die drei Schulkameraden Ilja, Sanja, Micha und die Mädchen Tamara, Galja und Olga sind vor dem Krieg geboren und wachsen in den 50-er Jahren in Moskau auf. Die Jungen erhalten mit Viktor Schengeli einen engagierten Lehrer, der sie für kulturelle, soziale und ethische Fragen sensibilisiert. Die Literatur ist das Einzige, was dem Menschen hilft, zu überleben, sich mit seiner Zeit zu versöhnen, lehrt er sie. Dass sich dieses Postulat auf alle Künste erstreckt, verstehen sie später, Sanja als Musikwissenschaftler, Ilja als Fotograf und Micha als Dichter und Lehrer. Obwohl nicht politisch tätig, geraten sie bald in Widerspruch zur sowjetischen Staatsdoktrin. Denkende Menschen, die darüber hinaus auch noch eine moralische Verantwortung leben (die Spezifik der russischen Intelligenzija), wurden zwangsläufig zu Außenseitern und „Feinden“.
Das Buch kreist um die Zeit der sowjetischen Dissidenten in den 60-er bis Anfang der 80-er Jahre, als Verhaftungen oder Einweisung in die Psychiatrie wegen „antisowjetischer Betätigung“ oder „Rowdytums“ an der Tagesordnung waren; es genügte auch der Besitz verbotener Literatur. Wichtigstes Thema im Roman ist die moralische Reife des Einzelnen, sein Gewissen und seine Freiheit. Kann der Mensch in totalitären Verhältnissen eine Wahl treffen oder muss er zum Mitläufer werden? Wo liegt seine innere Freiheit, wenn die äußere immer mehr eingeschränkt wird? Hat er die Chance, wirklich erwachsen zu werden? Und warum entwickeln die einen Jugendlichen moralische Verantwortung, durchlaufen eine Metamorphose, entfalten ihre zarten Flügel - und andere nicht?
Große Wendepunkte im Schicksal der Protagonisten stellen die Verhöre durch den alles wissenden KGB dar, der Ilja und Micha erpresst. Sie müssen Entscheidungen treffen, der Preis ist hoch. Ilja emigriert Hals über Kopf, um die geliebte Olga zu schützen, die ihrerseits nie den Grund errät und tödlich erkrankt. Micha wählt statt einer neuen Verhaftung den Freitod, er springt aus dem11. Stock. Der kranke Sanja geht später in die USA. Sie haben alle einen Knacks weg, im Seelischen wie im Physischen, die Helden, deren Flügel zum Fliegen nicht mehr taugen. Eine Skizze von Wrubel, die bei Tamara über dem Bett hängt - ein Engel mit gebrochenen Flügeln -, wird zur Metapher. Und ganz prosaisch zur Bestechung benutzt, um die Emigration für den Geliebten zu erkaufen.
Ulitzkaja schreibt nicht in linearer Abfolge der Ereignisse, sondern schraubt sich spiralförmig in die Entwicklung jeder Figur hinein. Jedes Kapitel setzt zeitlich verschachtelt ein und wechselt die Perspektiven. So entsteht ein komplexes, vielfach gebrochenes Muster schicksalhaft sich kreuzender Lebenslinien. Neben der alles durchziehenden Lyrik wird die Autorin auch deftig und oft sehr komisch im Ton. Bald verdichtet sie die Zeit zu epochalen Ereignissen, wie dem archaischen Grauen über Moskau bei Stalins Tod, bald im Gegengewicht zu absurd schrägen Szenen, ob beim Besuch des Schriftstellers Garcia Marquez, der die Offiziellen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs treibt oder bei Mascha, die Geld veruntreut und sich heimlich sündige Stiefel kauft. Sie entpuppen sich als zu klein, also stopft sie nichts ahnend eine Samisdat Kopie von Solzhenizyns verbotenem Archipel Gulag hinein und versteckt alles über dem Plumpsklo. Kurz darauf gibt es auf der Datscha von „König Artur“ eine Haussuchung, bei der alles umgekrempelt und Bücher konfisziert werden; der Karton mit dem subversiven Werk in Stiefeln wird nicht entdeckt und Maschas Stiefvater entgeht einer Verhaftung (den Grund dazu weiß allerdings nur der Leser).
Die in Haft und im Lager saßen, sind gezeichnet fürs Leben, die meisten sterben früh. Ulitzkaja setzt mit dem Tod des Dichters Joseph Brodsky 1996 in New York den letzten Punkt. Aber Brodsky, 1964 wegen „Parasitentums“ verurteilt und 1972 des Landes verwiesen, wird anonymisiert, steht stellvertretend für Dichter und Dissidenten: Sinjawski, Daniel, Galanskow, Bukowski, Gorbanewskaja, General Grigorenko und andere. Prototyp für Micha ist der jüdische Dichter Ilja Gabaj. Die Schicksale von Ilja, Sanja und den Frauen scheinen kompiliert aus verschiedenen Biografien. Dokumentarisches vermischt Ulitzkaja mit glaubhafter Fiktion. Andrej Sacharow aber braucht keine Maske. Schlicht schildert sie einen Besuch bei dem Atomphysiker und Menschenrechtler, der Demütigung in Kauf nahm, weil er den Einsatz für andere wichtiger fand als persönliche Privilegien.
In Olgas Traum vom grünen Zelt sind sie alle versammelt, Lebende wie Tote, Verräter, Täter und Opfer. Ulitzkaja verurteilt niemanden, aber ihre einfühlsame Liebe gilt den Standhaften, den Dichtern mit Gewissen.
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