Spaziergang mit dem berühmten Kardiologen Leo Bokerija. Foto: Jelena Potschetowa
Es ist ein kühler Samstagmorgen und Moskau wirkt menschenleer, als sei die Stadt bereits in Erwartung des Herbstes erstarrt. Dagegen ist der Park Krylatskije Cholmy mit seinen grünen, vom Sonnenschein verwöhnten Hügeln eine kleine Insel des Sommers. Dort haben sich trotz der frühen Stunde bereits über 100 Interessierte eingefunden, um an der Gesundheitsaktion Spaziergang mit einem Arzt teilzunehmen.
Den heutigen Dienst übernimmt Leo Bokerija, der Leiter des Wissenschaftlichen Zentrums für Herz- und Gefäßchirurgie A. N. Bakulew und Chefkardiologe der Russischen Föderation. Auch für ihn ist das zeitige Aufstehen an einem arbeitsfreien Tag eine kleine Überwindung. Trotzdem kommt Bokerija bereits den achten Samstag in Folge zu den Hügeln von Krylatskoje, um eine halbe Stunde lang mit anderen Moskauern durch den Park zu spazieren. Der Herzspezialist weiß, dass er bereits erwartet wird.
Leo Bokerija hat sich nie davor gefürchtet, Neues auszuprobieren. Schon
Biografie
Geburtsdatum: 22.12.1939
Geburtsort: Otschamtschira in der damaligen Autonomen Sozialisti-schen Sowjetrepublik Abchasien
Bildungsweg: Medizinstudium an der Ersten Staatlichen Medizinischen Hochschule „I. M. Setschenow“ Moskau.
1968 Abschluss und Aufnahme einer Tätigkeit am Institut für Herz- und Gefäßchirurgie A. N. Bakulew, seit 1994 Direktor der Einrichtung
2011 Wahl zum Ordentlichen Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, Sektion Physiologie und Grundlagenmedizin.
vor seiner Zeit als Chefkardiologe des Gesundheitsministeriums der Russischen Föderation nutzte er als weltweit erster Chirurg operative Eingriffe zur Behandlung angeborener sowie erworbener Herzfehler, Herzrhythmusstörungen und Ischämie. Modernste Technik kommt bei ihm zum Einsatz, wie beispielsweise eine dreidimensionale Modellierung des Operationsraums oder eine Video-Verbindung mit mehr als 20 Ärzten im In- und Ausland. Leo Bokerija hat über 150 Patente für medizinische Erfindungen inne.
„Es gibt in Russland etwa 700 000 Ärzte. Wenn jeder jährlich auch nur 100 Patienten auf solchen Spaziergängen beraten würde, könnten wir einen Riesenanteil derjenigen erreichen, die eine medizinische Behandlung oder Konsultation brauchen“, erläutert Bokerija das Ziel der Aktion. „Selbst in Frankreich können in Einrichtungen, die Herzvorhofflimmern behandeln, nur drei Prozent der Betroffenen erfasst werden, auch wenn das Personal sieben Tage in der Woche rund um die Uhr arbeiten würde. Und dabei ist dort wo das Niveau der medizinischen Versorgung sehr hoch.“
Was die Eltern schon wussten
Im Park Krylatskije Cholmy werden in einem Zelt bereits die ersten Teilnehmer registriert und mit Mützen, T-Shirts sowie Schrittzählern ausgestattet. Junge Frauen und Männer entnehmen den Teilnehmern Blutproben, bestimmen den Glukose-Spiegel und messen den Blutdruck.
„Uns unterstützen Krankenschwestern, ja sogar Oberschwestern“, erzählt ein junger Herzchirurg des Bakulew-Zentrums für Herz- und Gefäßchirurgie. Strahlend begrüßt er einen Kollegen, beide beteiligen sich ehrenamtlich an dem Projekt.
Die Teilnehmer der Spaziergänge sind überwiegend Rentner. Einige von
ihnen wohnen in der Nähe des Parks, andere haben durch Handzettel von der Aktion erfahren oder sind direkt vom Bakulew-Zentrum hierher geschickt worden. Als Leo Bokerija in einem der Zelte auftaucht, ist er sofort umringt von einer Menschentraube. Der hochgewachsene Kardiologe hört ernsthaft und konzentriert zu und antwortet stets mit einem warmherzigen Lächeln im Gesicht. Er spricht über Medikamente und Behandlungsmethoden, schenkt jedem Aufmerksamkeit, bei einigen hört er sogar das Herz ab.
„Wir reden nicht nur über hochspezielle Behandlungsmethoden, sondern auch über ganz elementare Dinge. Dinge, die wir bereits als Kinder gelernt, aber wieder vergessen haben: Dass man beim Essen und Trinken Maß halten und nicht rauchen sollte. Dass man versuchen soll, immer zur gleichen Zeit schlafen zu gehen und positiv gestimmt aufzustehen. Eben alles, was eine vernünftige Lebensweise so ausmacht.“
Der Kardiologe selbst verdankt dieses Wissen seiner Mutter, die ihn und
Leo Bokerija nahm als einer der ersten Chirurgen operative Eingriffe zur Korrektur angeborener und erworbener Herzfehler vor und erweiterte damit die Möglichkeiten einer dauerhaften Therapie. Bokerija implantierte erstmals in Russland Herzschrittmacher zur Prophylaxe des plötzlichen Herztods. Er gehörte zu den Initiatoren des bislang einzigen automatisierten, kardiochirurgischen Krankenregisters mit Daten von mehr als 20 000 Patienten.
Leo Bokerija ist Träger des internationalen Medizinpreises Golden Hyppocrates Award, mit dem die besten Chirurgen der Welt geehrt werden.
seine drei Brüder und Schwestern großzog. „Sie hat uns ihr ganzes Leben gewidmet und ich bin ihr unendlich dankbar dafür.“ Auch Leo Bokerijas Tochter beteiligt sich an der neuen Gesundheitsinitiative und arbeitet als Organisatorin der Spaziergänge in Russland. Unter dem Titel Walk with a Doctor wird diese Form der Gesundheitsprophylaxe bereits in zahlreichen Ländern praktiziert, in Russland liegen ihre Anfänge gerade einmal acht Wochen zurück. Zum ersten Spaziergang mit einem Arzt in Moskau kamen weniger als 100 Teilnehmer, doch seither wächst die Zahl von Mal zu Mal. Die Organisatoren wollen sich dabei nicht auf die russische Hauptstadt beschränken, sondern auch andere Regionen Russlands und sogar die Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) einbeziehen.
Mit Leib und Seele dabei
An diesem Samstag eröffnet Leo Bokerija den Spaziergang im Park Krylatskije Cholmy persönlich. Er führt die Kolonne der Spaziergänger an, hält dabei ein kleines Mädchen an der Hand und beantwortet geduldig die endlos auf ihn einprasselnden Fragen. Bokerija schlendert gemächlich, um den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. Er scherzt und gibt Anekdoten aus seinem Leben und dem medizinischen Alltag zum Besten.
Leo Bokerija gesteht, dass er sich bis zum Jahr 2003 keine Gedanken über eine ehrenamtliche Tätigkeit gemacht hat. Damals bat man ihn, eine ‚Gesundheitsbotschaft’ an die Bürger Russlands zu unterzeichnen und danach wurde ihm eine Funktion angetragen, die ihn zunächst verwunderte: Er sollte Präsident der russlandweiten gesellschaftlichen Organisation Liga für die Gesundheit der Nation werden.
„Dann wurde mir klar, dass ich bei den Menschen damit ja tatsächlich etwas bewirken kann und ich habe den Vorschlag angenommen. Am Anfang meiner Arbeit stand der Atlas Die Gesundheit Russlands als Grundlage für das Gedeihen der Nation. Darin finden sich Erkrankungen der Bevölkerung, Zahlen von Sportplätzen, inhaftierten Personen und vieles Andere. Dieser Gesundheitsatlas hatte eine unglaubliche Wirkung: Die Verwaltungschefs der Föderationssubjekte fingen an, sich für die Lage in ihren Nachbarregionen zu interessieren und sich zu fragen, warum es in ihrer Region nicht auch so ist.“
Unterdessen geht der heutige Spaziergang mit einem Arzt auf den Hügeln von Krylatskoje zu Ende. Abermals lassen die Teilnehmer ihre Werte kontrollieren, einige vergleichen die Ergebnisse mit den Daten der vorherigen Aktionen. Leo Bokerija ist zufrieden – und gönnt sich doch keine Pause. Mitte August startete er auch in Samara die Initiative Spaziergang mit einem Arzt, plant die Einrichtung einer neuen Route im Moskauer Zarizyno-Park Anfang September und hat vor, einen Gesundheitsatlas der GUS-Staaten herauszugeben.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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