"Die anderen sollt ihr hören, nicht euch selbst!"

Der gebürtige Nowosibirsker Thomas Sanderling kitzelt aus dem Orchester „blühenden Streicherklang“. Foto: Pressebild

Der gebürtige Nowosibirsker Thomas Sanderling kitzelt aus dem Orchester „blühenden Streicherklang“. Foto: Pressebild

Der Dirigent Thomas Sanderling ist ein musikalischer Wanderer zwischen Ost und West. Als Sohn des Dirigenten Kurt Sanderling und seiner Frau Nina wurde er am 2. Oktober 1942 in Nowosibirsk geboren. Seinen siebzigsten Geburtstag feiert er nun auf Usedom - beim Usedomer Musikfestival.

Russische Komponisten und Musiker

Herr Sanderling, wie wurden die Usedomer Festivalmacher auf Sie und das Nowosibirsker Orchester aufmerksam?

Ich glaube, das hatte mit den CD - Einspielungen des Gesamtorchesterwerks von Tanejew zu tun, die bei der Fachpresse viel Resonanz fanden. Grund genug jedenfalls für das Usedomer Festival, uns einzuladen; und sicher passend für das Thema der kulturellen Beziehungen der beiden Länder.

Tanejew, ein Freund Tschaikowskis, der Lehrer Skrjabins… Das Repertoire liegt dem Orchester, wo sind sonst seine Stärken?

Die Stärke der besten russischen Orchester ist immer ihre Kompetenz bei russischer Musik. Das Nowosibirsker Orchester ist da keine Ausnahme.

Eine pragmatische Frage: russische Orchestermusiker sind oft unterbezahlt, überarbeitet, demotiviert - teilen Sie diesen Eindruck?

Also - Überarbeitung kommt im eigenen Orchester allenfalls periodisch vor. Aber unterbezahlt, das stimmt. Vielleicht nicht im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der Bevölkerung, aber das liegt daran, dass überhaupt alle unterbezahlt sind. Auch ein qualifizierter Arbeitnehmer kann sich heute lange keinen im Westen üblichen Lebensstil leisten. Und so ist es auch bei den Musikern, die dann einfach gezwungen sind zusätzliche Arbeit ausserhalb des eigenen Orchesters. So kommt es gelegentlich zu Überarbeitung .

Wie informiert, wie aufgeklärt ist das russische Publikum im Allgemeinen? Welche Vorlieben hat es?

Diese Frage ist noch schwieriger zu beantworten als alle vorigen. Es gibt

natürlich Städte mit einer großen musikalischen Tradition. Nehmen Sie St. Petersburg: alle großen Dirigenten bis auf Furtwängler und Toscanini waren dort zu Gast; Mahler allein drei Mal. Erstaunlicherweise funktioniert das Anrechtssystem auch sehr gut in Nowosibirsk. In Moskau reden sie immer davon, welches Programm Anklang findet. Man müsse Solisten bringen, die das Publikum liebt. Deswegen war ich bei meinem letzten Konzert dort ein bisschen in Sorge - wir hatten nur Werke ohne Solisten auf dem Programm. Als der Saalmanager klagte, er könnte nun leider wirklich keinen einzigen Stuhl mehr in den Saal quetschen, war ich beruhigt.

Nun, da wird wohl der Name des Dirigenten eine große Rolle gespielt haben!

Das ist sehr nett, dass Sie das sagen. Aber das Konzert war wirklich beeindruckend, und es hat mich in vielen Dingen, die mit Ihrer Frage zusammenhängen, ermutigt. Andererseits beobachte ich, dass die erwähnte Tradition nicht mehr in dem Maße vorhanden ist. Ich weiß nicht, ob es eine Zeiterscheinung ist, dass sich die Hörer von den Orchestern abwenden. Aber es ist deutlich seltener geworden, dass man auf Hörer trifft, die quasi für die Kunst leben, dass man spürt, dass ihnen das Konzert etwas bedeutet. Heute geht man in Konzerte, um sich zu zeigen. Die Eventkultur regiert.

Russland galt immer als ein Land, in dem die Hochkultur sehr geschätzt und klassische Musik fast ehrfürchtig zelebriert wurde. Nun scheint sich die Rezeptionskultur dem Westen rasend schnell anzupassen.

Ich weiß, was Sie meinen, und habe das vor allem auch in Japan gefunden. Dort rennen die Menschen nach der Arbeit ins Konzert, sitzen mit der Partitur im Saal, danach lassen sie sich Programme und CDs signieren… Ich scheue mich, den Begriff des Fanatikers zu verwenden, aber die Hingabe ist schon bemerkenswert. Ich erinnere mich an meine Kindheit; damals wurden etwa die Anrechte für die Saison der Leningrader Philharmonie an einem Tag verkauft… Die Zeiten ändern sich.

„Was bisher geschah…“ - Können Sie ein wenig in der Geschichte Nowosibirsks zurückblicken?

Nowosibirsk ist eine besondere Stadt, und die drittgrößte Russlands. Ab

1903 hieß sie Nowonikolajewsk (nach Zar Nikolaus dem II.) - und hatte wenig mehr als 20.000 Einwohner. Traditionell ein Verbannungsort - ja, die Verbannung ist eine russische Tradition -, wurden im Zweiten Weltkrieg viele Intelligenzler hierher evakuiert. Und auch die Petersburger Philharmoniker waren nach Nowosibirsk ausgelagert, was der Stadt einen wichtigen kulturellen Impuls gab. Noch vor dem Krieg war hier das größte Operntheater Russlands gebaut worden: eine Riesenbühne, ein Riesenorchestergraben… Nach dem Krieg wurde es eröffnet, und auch ein eigenes Philharmonisches Orchester gegründet. Dann gab es noch einen sehr wichtigen Impuls: Nach Stalins Tod wurde die sibirische Akademie der Wissenschaften gegründet. Auf einmal war viel wissenschaftliche Elite da, und die brauchten natürlich auch ein Kulturleben.

Und wie sieht es auf dem Gebiet der musikalischen Ausbildung aus?

Das Nowosibirsker Konservatorium hat sich sehr stark entwickelt. Nehmen Sie nur die Geigenabteilung: während der achtziger Jahre war Zakhar Bron hier Professor; Vadim Repin und Maxim Wengerow haben bei ihm studiert. Von den Streichern des Nowosirbirsker Orchesters, vor allem von den Geigen, sind viele Absolventen dieses Konservatoriums.

Das dürfte einen Einfluss auf die Einheitlichkeit des Klangs haben, oder? Von einigen deutschen Orchestern, etwa der Dresdner Staatskapelle, ist diese Art der „Klangvererbung“ ja bekannt.

Zweifellos! Ich glaube mich zu erinnern, dass noch während der Dresdner Zeit meines Vaters „neue“ Geigen immer erst einmal in die Zweiten Geigen kamen. Wer von draußen kam, konnte sich so an den Klang, die Spielart, den Stil der Streicher anpassen. Später, bei meinem eigenen Gastdirigat dort erzählten mir verschiedene Streicher, dass es gang und gäbe war, ein neues Mitglied einem erfahrenen, alten an die Seite zu geben. Der ging dann vor allem das Opernrepertoire mit ihm durch, sagte: „das spielt man bei uns so und so…“ So entwickelte sich zum Beispiel die spezielle Art der Dresdner Streicher, pianissimo zu spielen! Ich versuche das anzubringen, egal bei welchem Orchester ich gerade zu Gast bin, und sage den Streichern: „Ihr sollt so spielen, dass ihr die Anderen und nicht euch selbst hört!“ Diesen Klang hat man in Dresden kultiviert.

Gastdirigent des Nowosibirsker Sinfonieorchesters

Seit zwölf Jahren sind Sie Erster Gastdirigent des Nowosibirsker Sinfonieorchesters (oder „Akademischen Sinfonierorchesters“). Welches Repertoire pflegen Sie hier?

Obwohl dieses Orchester der internationale Botschafter der Stadt ist, hat man es leider bisher nicht zustandegebracht, ihm einen guten Saal zu bauen. Ehrlich gesagt, die besten Säle Russlands sind alle vor der Revolution gebaut worden. Nun ja. Was das Repertoire angeht: das ist international. Es wird alles gespielt, wobei das breite Publikum natürlich das Repertoire des 19. Jahrhunderts bevorzugt, daneben die „Klassiker“ Schostakowitsch, Prokoffjew und Strawinski. Weniger bekannte Werke sind nicht so attraktiv. Ich habe mir aber beispielsweise die Freude gemacht, die 7., 8. und 9. Bruckner aufzuführen, und stelle fest, dass der Komponist heute keine Fremdart mehr ist. Auch die Alte Musik wird mehr und mehr gepflegt.

Ab den neunziger Jahren zog es viele gute Musiker, die an den russischen Konservatorien ausgebildet wurden, nach Westeuropa. Gibt es diesen Exodus auch in Nowosibirsk?

Ja, aber der Drang, ins Ausland zu gehen, ist heute geringer. Es ist nicht mehr so, dass die Musiker nach Mexiko, nach Ägypten drängten, das ist vorbei. Auch zuhause können sie heutzutage, gemessen am Durchschnitt der Bevölkerung, ein relativ einträgliches Auskommen haben. Aber man muss schon sagen: die besten russischen Geigenpädagogen lehren heute alle im Ausland.

Was unterscheidet die Nowosibirsker von anderen Klangkörpern - gibt es stilistische oder andere Besonderheiten? Oder kann man gar innerhalb Russlands einen „russischen Klang“ irgendwie beschreiben?

Allgemein steht in russischen Orchestern, der blühende, reiche Streicherklang im Vordergrund. Ein überaus romantischer Klang, sozusagen „mit viel Cholesterin“, wie irgendjemand einmal sagte. An dem Ensemblegefühl, an Stilfragen und auch der rhythmischen Kultur muss man dagegen immer arbeiten. Klanglich geht ein russisches Orchester sofort gewaltig los, im Konzert kann das dampfen! Aber Werke von Mozart, Haydn, Beethoven müssen stets sehr ausführlich probiert und gearbeitet werden. Musik in einer stilistisch !bestimmten Weise zu spielen, ist immer schwer. Aber bei Spitzenorchestern ist das Verständnis natürlich vorhanden. Nur als Beispiel: beim Nationalphilharmonischen Orchester habe ich kürzlich „Rachmaninow 3“ und Schubert C-Dur dirigiert. Der Rachmaninow war sofort sehr aufregend. Aber der Schubert wurde eine außerordentlich mühsame Angelegenheit...

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