4000 Euro pro Quadrattmeter: Die Preise fürs Moskauer Immobilien steigen jährlich um zehn Prozent. Foto: 28-300.ru
Der Anruf holt Andrej im Urlaub morgens um fünf aus dem Bett. „Es tut mir leid“, erklärt die Vermieterin am Telefon. Ihr Sohn Nikolai sei überraschend aus der Haft entlassen worden und müsse nun unterkommen. Andrejs Wohnung werde gebraucht. Die Urlaubslaune ist hin, nichts wie zurück nach Moskau. Zwei Wochen Gnadenfrist hat Andrej bekommen; zwei Wochen, in denen er sich in seinem Zimmer einschließt, denn die Wohnung muss er nun mit Nikolai, dem amnestierten Betrüger, teilen. Es sind zwei lange Wochen, denn Nikolai feiert seine Entlassung ausgiebig mit alten Freunden und zufälligen Frauen von der Straße. Als Andrej schließlich eine neue Wohnung gefunden hat, ist Nikolai in rührseliger Stimmung: „Wenn du willst, kannst du bleiben, du störst mich nicht“, sagt er ihm. Doch Andrej winkt dankend ab und zieht um – in ein neues Abenteuer: eine heruntergekommene Bude, die der auswärtige Besitzer unter der Bedingung billig vermietet, dass Andrej sie renoviert und ihn bei seinen Moskau-Besuchen unterkommen lässt. Auch dies keine Lösung auf Dauer.
Kein Vertrag, keine Steuern
Es sind solche Geschichten, die die Russen nach eigenen vier Wänden lechzen lassen. Mietverträge gibt es selten, denn die meisten Vermieter wollen keine Steuern zahlen. Speziell bei billigen Wohnungen sind die Mieter oft völlig rechtlos und können von einem Tag auf den anderen vor die Tür gesetzt oder mit saftigen Mietsteigerungen konfrontiert werden. Vor allem in Moskau ist Wohnen nicht billig. Die russische Hauptstadt zählt zu den teuersten Städten der Welt. Der Preis für die Einzimmerwohnung am Stadtrand beginnt bei 30 000 Rubel (750 Euro) im Monat – und steigt jährlich um zehn Prozent. Wer es nobel liebt, braucht einen prall gefüllten Geldbeutel: „Hochwertige Wohnungen kosten ab 3000 Euro. Eine Obergrenze zu nennen ist in dem Segment schwer, auf dem Markt sind Objekte, deren Preis bei 20 000 bis 35 000 Euro im Monat liegt“, sagt Ilja Plaksin von Penny Lane Realty.
Staat verschenkt Wohnung
Wie können sich unter solchen Umständen Rentner mit einer Pension von 250 Euro eine Wohnung in Moskau leisten? Ganz einfach, sie
Die 90er waren die Zeit der Privatisierungen. Der Markt galt den Reformern als das höchste Ziel, und so wurde fleißig Staats-eigentum verkauft, darunter auch die staatlichen Wohnungen. Man hoffte, dass die Besitzer sich um den Erhalt ihrer Immobilien kümmern und so den Staat entlasten würden.
gehört ihnen. „Der Staat hat mir meine Wohnung geschenkt“, erklärt Ljudmila Iwanowna, 68-jährige Rentnerin. In den 90er-Jahren wurde der Großteil der zu Sowjetzeiten gebauten Wohnungen privatisiert.Der freie Markt galt den Reformern als das höchste Ziel, und so wurde fleißig Staatseigentum verkauft, verscherbelt und verschenkt. Ziel war die Schaffung eines Immobilienmarkts. Dazu musste der Kreis der Besitzer wesentlich erweitert werden. Privatisiert wurden nicht nur Wohnungen, sondern sogar einzelne Zimmer, denn zu jener Zeit lebten noch immer viele Russen in sogenannten Kommunalkas, die sich von den Wohngemeinschaften heute im Wesentlichen dadurch unterscheiden, dass die Bewohner ihre Zimmer vom Staat zugewiesen bekamen und sich folglich ihre Nachbarn nicht aussuchen konnten. Verbun- den war die Privatisierung mit der Hoffnung, dass sich der vom Mieter zum Besitzer mutierte Bürger stärker um den Erhalt seiner Immobilie kümmern und so dem Staat Kosten ersparen würde. Die meisten Russen haben tatsächlich zugegriffen – bis zum 1. März 2013 müssen sich auch die letzten Unentschlossenen entscheiden, die bis heute als Mieter in ihrer Wohnung aus der Sowjetzeit leben. Dann endet die Frist für eine mögliche Privatisierung. Wie bei jeder Privatisierung gibt es Gewinner und Verlierer: Wer Glück hat, wohnt in Moskau, die Pechvögel leben in Magadan. Die Differenz ist gewaltig. Ein Quadratmeter in Moskau kostet im Schnitt 4000 Euro, in Magadan 830 Euro. Kostenlose Sozialwohnungen gibt es auch heute noch: Anspruch darauf haben aber nur wenige: Großfamilien, Weltkriegsteilnehmer, Waisen und manche Behinderte. Als bedürftig gelten auch die Bewohner von baufälligen Gebäuden, die vor dem Abriss stehen. Die bürokratischen Hürden in so einem Fall sind freilich hoch.
Eine lange Wartezeit
Pro Jahr werden in Moskau 10 000 bedürftige Familien mit einer Sozialwohnung versorgt. Derzeit warten aber knapp 180 000 Familien auf eine Zuteilung, die Wartezeit beträgt 15 bis 20 Jahre. Für Rollstuhlfahrer wurden in den letzten Jahren gerade einmal einige hundert Wohnungen fertig- gestellt. Also bleibt den meisten Russen nur der Kauf. In Moskau ist das Pflaster besonders teuer. Trotzdem sind Wohnungen äußerst begehrt. Sie gelten als sichere Wertanlage mit satter Rendite. Zum einen, weil der Quadratmeterpreis in den letzten Jahren beständig stieg, zum anderen, weil dementsprechend hohe Mieten monatlich gute Gewinne abwerfen. Während der Finanzkrise 2009 gab der Markt zeitweise deutlich nach. Sollte der Ölpreis auf 60 bis 70 USD pro Barrel fallen, sei auch in diesem Jahr ein Preisrutsch von 15 bis 25 Prozent möglich, pro-gnostiziert der Leiter des Immobilienportals IRN.ru Oleg Reptschenko. Doch derzeit ist die Gefahr gering. Interessanter sind die möglichen Auswirkungen der Stadterweiterung Moskaus. Auf dem neuen Gebiet sollen Wohnungen für etwa zwei Millionen Menschen entstehen. Durch das steigende Angebot könnte der Preis unter Druck geraten. Doch Experten meinen, dass der anhaltende Zuzug in die russische Hauptstadt diese Steigerung mehr als ausgleicht.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!