Die Ermordung des US-Botschafters in Libyen: der Konfusion im Nahen Osten geht fort.

Bild: Niyaz Karim

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Niemand begreift mehr, wer gegen wen kämpft und wer auf wessen Seite steht. Die Ermordung des Botschafters der Vereinigten Staaten in Bengasi – einer Stadt, die vor einem Jahr jubelnd die Bombardierung Libyens durch die NATO begrüßte – bestätigt nur das Ausmaß der Konfusion.

Als sich vor elf Jahren der Staub über den Trümmerndes von arabischen Selbstmord-Attentätern zum Einsturz gebrachten World Trade Center gesetzt hatte, schien es, als sei eine neue Frontlinie entstanden, die alle und alles säuberlich trennt. Die „internationalen Terroristen" und „Feindeder freien Welt" standen jenseits von Gut und Böse. Gegen sie gab es ein universelles Mittel – die Demokratie. Eine Demokratie, die im Idealfall von selbst entsteht, oder, wenn das aus diesem oder jenem Grunde nicht eintritt, auch – notfalls gewaltsam – implementiert werden kann.

Die Neokonservativen gingen von zwei Prämissen aus. Die erste bestand in der Annahme, dass die Maßnahmen, die die USA als globale Supermacht zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit ergreifen mussten, ebenfalls globaler Natur sein sollten. Die zweite Prämisse bildete der Glaube, dass die Garantie für eine vorhersagbare und friedliche Entwicklung in einem demokratischen Staatsaufbau liege. Je mehr Länder ein derartiges Staatswesen pflegten, desto geringer würde die Bedrohung für Amerika sein. Die weiteren Ereignisse – Afghanistan, der Irak, die Wahlen in Palästina und die Unterstützung der „bunten Revolutionen" – waren reale Umsetzungen dieser Vorstellungen.

Die Linie des Trios George W. Bush-Dick Cheney-Donald Rumsfeld erwies sich als falsch und der Inhalt der Präsidentschaft Barack Obamas war geprägt durch das Bemühen, das Erbe seiner Vorgänger loszuwerden. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass das, was die Neokonservativen angestrebt hatten, dann gerade unter Barack Obama Wirklichkeit zu werden begann.

Der Nahe Osten erwachte, Massen von Menschen forderten eine reale Demokratisierung und fegten – mancherorts eigenständig, mancherorts mit externer Unterstützung – die diktatorischen Regimes hinweg. Amerikas gestrige zuverlässige Verbündete im Kampf gegen den Terrorismus waren gestürzt, Nutznießer der – durchaus als Volksrevolutionen zu begreifenden – Erhebungen wurden Kräfte, die vor Kurzem noch wenn nicht als Terroristen, so doch zumindest als deren Helfershelfer und damit als verdächtig galten.

Heute erinnert man sich häufig an die Afghanistan-Erfahrung der 1980er Jahre, als die USA im Kampf gegen die Sowjetunion auf die Mudschaheddin setzten. Aus ihnen erwuchs das Terrornetzwerk Al Kaida, das seine Waffen dann gegen die vormaligen Gönner richtete. Die historische Parallele funktioniert allerdings nur bedingt. Seinerzeit traf Amerika in Afghanistan eine bewusste Wahl: Die Aufgabe, dem Kommunismus und den Sowjets einen Schlag zu versetzen, galt als so vordringlich, dass Überlegungen zum Preis dieses Schlagabtauschs schlichtweg keine Rolle spielten. Zudem war damals noch nicht abzusehen, wie sehr der Islam seine politischen Positionen ausbauen würde, wenn die ideologische Blockbildung nach dem bisherigen Schema nicht mehr existierte.

Heute macht sich wohl niemand mehr Illusionen im Hinblick auf den Vektor der Entwicklung: Der Antiamerikanismus im arabischen Raum wie in der muslimischen Welt insgesamt ist eine flächendeckende Erscheinung, vor allem in den breiten Volksmassen, die einen Großteil der Wählerschaftausmachen. Zudem sind die im Zuge der Antiterror-Operationen der Anfangsjahre des 21. Jahrhunderts gesäten Samen einer kulturell-religiösen Konfrontation aufgegangen. Der radikale islamistische Fanatiker findet sein Pendant in einem halbirren Pastor Terry Jones, der öffentlich den Koran verbrennt, sich dabei auch noch unverhohlen über die Folgen dieser Provokation freut und unter Berufung auf den 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten und die darin festgeschriebenen Freiheit der Religionsausübung für unantastbar hält.

Im Vorfeld des Jahrestages der Terrortragödie vom 11. September 2001

schlug Mohammed as-Sawahiri, der in Ägypten lebende jüngere Bruderdes jetzigen Al-Kaida-Anführers Ayman as-Sawahiri, in einem Interview mit dem Fernsehsender Al Dschasira dem Westen und den USA einen zehnjährigen Waffenstillstand vor. Die Amerikaner sollten sich aus den Angelegenheiten der islamischen Länder heraushalten, im Gegenzug würde man die „gesetzmäßigen Rechte" der Vereinigten Staaten und des Westens schützen und von Provokationen Abstand nehmen.

Es macht wenig Sinn, diesen Vorschlag ernsthaft zu erörtern. Erstens räumt Mohammed as-Sawahiri selbst ein, dass er bereits seit vielen Jahren keine Kontakte mehr zu seinem Bruder unterhält. Doch selbst wenn diese Kontakte bestünden und Mohammed auf Ayman Einfluss nehmen könnte, würde das kaum etwas ändern. Denn zweitens ist Al Kaida keine vertikales System, indem eine von der Führungsspitze gefällte Entscheidung allenthalben vor Ort ausgeführt wird, sondern eine abstrakte „Marke", eine Dachbezeichnung, unter der verschiedenste Strukturen mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Aufgabenagieren.

Dennoch ist allein schon die Tatsache einer derartigen Erklärung aufschlussreich. Mohammed as-Sawahiri zählt zu den Nutznießern des „arabischen Frühlings". Als Extremist verurteilt, saß er 14 Jahre in ägyptischen Gefängnissen und wurde – wie zahlreiche andere Gegner desalten Regimes – in diesem Jahr endgültig rehabilitiert.

Der politische Islam, über den seit 2001 vornehmlich im Kontext des Al-Kaida-Netzwerks und der globalen Anti-Terror-Koalition geredet wurde, hat jetzt eine völlig neue Dimension gewonnen. Die Islamisten kommen heute in den arabischen Ländern legal an die Macht. Ägypten wird von den Moslembrüdern regiert, wobei angemerkt sei, dass Mohammed Mursi entgegen allen Erwartungenkein „Dekorationspräsident" der Militärjunta ist, sondern die Lage entschlossen unter seine Kontrolle gebracht.

Natürlich besteht zwischen Mohammed Mursi und den extremistischen Gesinnungsgenossen der Brüder as-Sawahiri ein großer Unterschied. Allerdings ist dieser Unterschied bereits nicht mehr so groß wieder zwischen ihnen und Ägyptens gestürztem Autokraten Hosni Mubarak. Die Kluft wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach – als Folge von Entwicklungen auf beiden Seiten – sogar weiter verringern: durch die Sozialisierung der Radikalen, aber auch durch das Einschwenken von Gemäßigten in ihre Richtung. Und durch die Legitimierung der einen wie der anderen.

Vor zehn Jahren hegte man die Hoffnung, die Terroranschläge von New

York und Washington hätten zumindest deutlich werden lassen, wer im globalen Maßstab Freund und wer Feind sei. Doch der „arabische Frühling" hat alle Karten neu gemischt. In Libyen, Ägypten, Syrien und dem Jemen sind die Amerikaner heute faktisch Bündnispartner von Kräften, die sie im Rahmen der Antiterror-Konfrontation bekämpft haben. Der Nahe Osten erlebt tektonische Verwerfungen und fundamentale Veränderungen, die sich bislang erst in ihren Konturen abzeichnen. Sowohl Osama bin Laden als auch George W. Bush haben einen Anteil daran, dass die Voraussetzungen dafür entstanden. Doch das, was jetzt in Gang gekommen ist, hat seine eigene Logik, und das Szenario hängt kaum noch von äußeren Kräftenab.

Die Veränderungen im Nahen Osten setzen einen Schlusspunkt unter dieillusorische Vorstellung, die Welt des 21. Jahrhunderts ließe sich nach einem simplen, allgemein verständlichen Schema gestalten.

Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift „Russia in Foreign Affairs".

Dieser Beitrag erschien zuerst bei gazeta.ru.

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