Bild: Niyaz Karim
Das chinesische Sprichwort „Wenn drei Leute einen Tiger gesehen haben wollen, glauben es bald alle!" kann als Devise für die Verbreitung von Informationen im Internet gelten. Der Kern der Aussage ist, dass es kaum überzeugt, wenn ein Einziger erzählt, er habe ein Raubtier durch die Stadt streifen sehen. Berichten jedoch drei Personen davon, kann dies durchaus zu einer Änderung der Meinung führen.
Auf diese Weise lässt sich das Phänomen des Dezembers 2011 erklären. Damals hatten alle Internetnutzer in Moskau plötzlich das
Gefühl, eine friedliche Revolution sei im Anmarsch. Der Aufruf „Für ehrliche Wahlen" entstand aus der Situation heraus und wurde ohne Angabe eines Autors verbreitet – dafür jedoch mit rasanter Geschwindigkeit. Die Anzahl von Posts und Tweets verwandelte sich sofort in eine qualitative Aussage, in die für einen unbeteiligten Beobachter urplötzliche Aktivierung von Bürgern, die der Politik zuvor gleichgültig gegenübergestanden hatten.
Ein organischer Massenprotest entsteht, wenn er von Emotionen aus- und dann zu Worten übergeht, und nicht umgekehrt. Kurzum, je mehr Organisationskomitees es gibt, desto mehr Betrug ist im Spiel. Kolumnen, Videobotschaften bekannter Persönlichkeiten, Nachrichten in den sozialen Netzwerken – nach den Ereignissen vom Dezember erwiesen sie sich immer häufiger lediglich als Imitation des Geistes, der tatsächlich im Dezember geherrscht hatte. Das moralische Kapital war bald aufgebraucht.
Für mich, der beteiligt war, ist es bedauerlich, dies jetzt zu verstehen. Die übertriebene Positionierung jeder folgenden Aktion als entscheidende Schlacht zwischen Gut und Böse musste zwangsläufig die Aktivisten ausbrennen. Müde und halbherzig schleppten sie sich zur nächsten Demo. Wozu so etwas führen kann, wurde bei der letzten Versammlung am 19. August vor dem Weißen Haus deutlich, als sich alle langweilten: die Politiker, die Journalisten, die Protestierenden und auch die Polizisten der OMON-Sondereinheiten.
Die ausgeleierte Schallplatte „Man kann keinesfalls nicht hingehen, weil's nicht anders geht!" funktioniert nicht mehr. Aus dieser Kanone wurde auf Spatzen geschossen, und das Wundertöpfchen „Facebook" hat aufgehört zu köcheln. Schließlich geht es nicht darum, dass alle einen Link weiterleiten, sondern dass dieser Link mit konkretem Inhalt gefüllt wird. Multipliziert man eine Null mit einer Million, bleibt trotzdem nur eine Null.
Der Autor organisierte die Winterdemonstrationen mit.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitung Vedomosti.
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