Der Einkauf einer Melone bei einem mit starkem Akzent sprechenden kaukasischen Verkäufer kann bei guter Laune zum Ritual werden. Foto: ITAR-TASS.
Wenn in Moskau die zahlreichen Verkaufsplätze für Melonen eingerichtet werden, neigt sich der Sommer dem Ende entgegen. Am 2. August, dem Iljin-Tag (der Volksmund behauptet, an diesem Tage habe ein Rentier ins Wasser gepinkelt), ist auch die Badesaison in den mittleren Breiten so gut wie zu Ende. Der August zeigt sich hiergewöhnlich schon ein bißchen herbstlich, denn der Herbst ist spürbar nahe. Mannimmt hier den meteorologischen Beginn der Jahreszeiten, nicht den geologischen. Also fängt am 1. Juni der Sommer, am 1. September der Herbst, am 1. Dezember der Winter und am 1. März der Frühling an. Ist gut zu merken.
Die trüben Aussichten auf kürzer werdende verregnete Tage versüßen die Melonen, Honig- und Wassermelonen, die auf LKWs aus dem krasnodarer Gebiet und vor allem aus Astrachan am Wolgadelta in die großen Städte gebracht werden. Die Melonen aus Astrachan gelten als die schmackhaftesten. Dort können die Köstlichkeiten bei stabil hohen Temperaturen in Ruhe reifen. Sie reisen erster Klasse, auf weiches Stroh gebettet, damit sie unbeschädigt ankommen. Die Händler bilden eine Kette und heben jede Melone einzeln und behutsam vom Wagen.
Melonen gehören in der Saison nicht nur auf jeden Tisch, sie sind auch der Renner auf Parties. Das saftige und süße Fruchtfleisch wird
gewürfelt und zusammen mit Sekt in die ausgehöhlte Melone gegeben. Schön besoffen werden kann man übrigens von Melonen, die mit Wodka gespritzt werden. Mit dem Hochprozentigen gefüllt undnoch ein paar Tage in der Sonne gelegen hauen sie jeden um. Das ist ein Schmankerl für Spezies. Allerlei wilde Gerüchte ranken sich um die Melonen, so soll man z.B. von den ersten Wagenladungen um Gottes Willen keine essen, sie seien alle mit Nitraten vollgepumpt, um den Reifeprozess zu beschleunigen. Das mag sicher hin und wieder vorgekommen sein, aber in des Verbrauchers Phantasie wird daraus ein allgemeingültiges Gesetz.
Trotz derzahlreichen Gerüchte ißt man hier eigentlich alles, Beeren und Pfifferlinge aus strahlenverseuchten Gebieten, Milch, Fleisch und Eier nebulöser Herkunft. Die Frage an den Verkäufer, ob es frisch und aus dem Moskauer Gebiet sei, beendetdie halbherzige Recherche meist sehr schnell, denn der Verkäufer preist im Brustton der Überzeugung seine Ware als frisch und völlig unverseucht an.
Die Melonenverkäufer, von Jahr zu Jahr mit neuen Auflagen bedrängt und auf lange Sicht der Vertreibung ausgesetzt, sind für mich trotzdem ein Lichtblick im Dschungel des Einzelhandels. Wenn sie mal verschwunden sein werden und wir die Melonen in Supermärkten kaufen müssen, werde ich aus Protest keine mehr essen.
Der Einkauf einer Melone bei einem mit starkem Akzent sprechenden kaukasischen Verkäufer kann bei guter Laune zum Ritual werden. Dabei hätten sie allen Grund mürrisch zu sein, denn sie hausen häufig in alten Rostlauben Marke Schiguli, das ist der Vorläufer vom Lada, neben dem Verkaufsstand, um Diebstahl und mutwillige Zerstörung durch idiotische Skinheads und noch nicht ganz abgefüllte Säufer zu verhindern. Das ist gewiß kein Zuckerschlecken. Um duschen oder halbwegs menschlich ihre Notdurft verrichten zu können, müssen sie sich schon etwas einfallen lassen.
Ich konnte vor ein paar Jahren die letzten Striche der Morgentoilette eines Verkäufers beobachten. Mit einer großen rostigen Schere beschnitt er vor einem kleinen Autospiegel die aus Nase und Ohren sprießenden Haare. Da kriegte man schon beim bloßen Zuschauen Gänsehaut.
Wer sich mit Gemüse aus den heimatlichen Breiten bevorraten möchte, sollte sich ins Auto setzen und aus Moskau herausfahren, ganz gleich, in welche Richtung. In den Dörfern stehen die Kleingärtner und bieten Kartoffeln, Möhren, rote Beete, Kraut, mit einem Wort, alles was hier in diesen Breiten wächst, zu zivilen Preisen feil. Ziegenmilch, Eier, Blumen kann man da auch gleich noch mitnehmen.
Ein Plausch über das Leben geht als Gratisbeilage mit über den nicht vorhandenen Ladentisch. Das Geplauder mit den Käufern ist für die Dorfbewohner das Salz in der Suppe. Natürlich verkaufen sie ihre Waren, um etwas Geld in die Kasse zu kriegen, aber sie genießen das Handeln, sitzen stundenlang und warten auf Kundschaft, das Leben tröpfelt langsam vor sich hin. Als von Termin zu Termin hetzender Städter, der seine wertvolle Zeit in Staus und vollen Metrozügen zerrinnenfühlt, wird man da schon hin und wieder mal neidisch.
Muss man dann abends noch etwas in Moskau einkaufen, holt einen das barsche „Sagen Sie an!" oder „Der Nächste!" der hauptstädtischen Verkäuferinnen wieder auf den Bodender Tatsachen zurück.
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