Bild Alena Repkina
Damals im Dezember 2011 wurden Themen wie vorgezogene Neuwahlen der Duma, ein Rücktritt Putins oder gar die Ernennung einer Übergangsregierung unter Beteiligung der Opposition durchaus ernsthaft diskutiert. Die Regierung reagierte auf derartige Szenarien mit einer klaren Strategie, nämlich den Schwung der Protestbewegung ins Leere laufen zu lassen. Heute, neun Monate später, wird deutlich: Die Bewegung, die sich im Dezember vergangenen Jahres zu formieren begann, ist politisch gescheitert.
Präsident Putin ist sich seines Amtes sicher, vorgezogene Dumawahlen sind vom Tisch und die gewählte Duma hat den Oppositionellen in einem Gegenangriff das Mandat entzogen. Die Moskauer Protestszene ist seit Dezember kläglich geschrumpft, in den Regionen scheinen die Mobilisierungskräfte der Opposition ganz versiegt. Selbst in den Zentren der Protestkultur St. Petersburg und Jekaterinburg finden kaum mehr nennenswerte Aktionen statt. Wie lässt sich diese Entwicklung erklären?
Ein derartiger Lauf der Ereignisse zeichnete sich bereits nach der ersten Demonstration im Dezember ab. Die meisten Sympathisanten und Unterstützer der Protestaktionen waren sich dessen allerdings nicht bewusst. Zu unerfahren waren sie im Umgang mit den Leuten, die sich innerhalb der Bewegung nach oben gearbeitet hatten, zu idealistisch schätzten sie ihre Schlüsselfiguren ein. Vor fünf Jahren ging auch ich einigermaßen naiv davon aus, alle Politiker, die gegen Putin auftreten, seien per se aufrichtige Personen. Damit lag ich falsch. Über die Jahre politischer Repressionen ist in Russland eine Szene der Berufsoppositionellen entstanden, die an weitreichenderen politischen Aufgaben nur scheitern kann.
Putin schaffte es, die Oppositionsszene in das enge Ghetto relativ
unbedeutender liberaler Medien und Blogs zu drängen und machte ihr damit einen Strich durch die Rechnung. Im Wetteifer um die Gunst eines nicht gerade großen und notorisch geladenen Auditoriums übten sich die Protestprofis bis zur Vollendung in ihrer Kunst, Putin rhetorisch zu vernichten. Tatsächlich verloren sie dabei aber ihr politisches Handlungsvermögen und die Fähigkeit, mit der ganz normalen Bevölkerung zu kommunizieren.
Das Ergebnis ist die Wiederholung eines Musters, das die innersystemische Opposition bei den Präsidentschaftswahlen 2008 und 2012 scheitern ließ. Im Jahr 2008 stellte das Oppositionsbündnis Anderes Russland Garri Kasparow als Kandidaten auf. Kasparow aber fand keinen geeigneten Versammlungssaal für sich und seine Anhänger und beteiligte sich schließlich nicht an den Wahlen. Im Jahr 2012 rechneten viele mit einer Kandidatur von Alexej Nawalny, der sich jedoch nicht aufstellen ließ. Die Gründe dafür sind unklar, doch Nawalny soll geäußert haben, es gäbe „keine Wahlen in Russland“.
Derweil agierten die Berufsoppositionellen auf ihrer eigenen Bühne und verwandelten sämtliche Formen des politischen Aufbruchs in regelmäßige Zusammenkünfte am Siegesplatz und in den Occupy-Camps. Vergangenen Samstag bekannte sich Alexej Nawalny sogar offen zu dieser phantasielosen Strategie: „Wir sollten zu Demonstrationen gehen wie zur Arbeit.“
Der Fall Gudkow: ein Fehler der Opposition?
Vor kurzem sagte jemand zu mir, Nawalny sei „nach dem 4. Dezember anscheinend ausgewechselt worden.“ Bei den Dumawahlen stand er noch dafür ein, aktiv für Stimmen gegen die Partei Einiges Russland zu kämpfen und vermochte so eine mächtige Protestwelle zu mobilisieren. Doch danach verwandelte er sich, so mein Gesprächspartner, in einen ganz normalen Aussteiger, der zum kompletten Wahlboykott aufrief.
Nur dem eigenen Gewissen verpflichtet
Nebentätigkeiten von Abgeordneten in Deutschland und Russland: gleiches Problem, verschiedene Umgänge.
Scharf kritisieren heute Anhänger von Nawalnys Kampagne das Vorgehen von Einiges Russland gegen Gennadi Gudkow, dem vor ein paar Tagen sein Mandat entzogen wurde. Sie übersehen dabei ihren eigenen Anteil an dieser zugespitzten Lage: Hätten sie nicht vor einem Jahr zu einem Wahlboykott aufgerufen (die Wahlbeteiligung war im Ergebnis um 4 % geringer als 2007), hätte die Duma Gudkow vielleicht sein Mandat gar nicht entziehen können.
Doch Nawalnys Aktivisten fühlen sich offensichtlich nicht genötigt, ihren politischen Fehler und einzuräumen. Im Gegenteil betrachteten sie die Aufmerksamkeit der Medien und die von Tausenden unterstützten Protestaktionen als etwas Selbstverständliches. Hätten die Redakteure der drei oder vier liberalen Moskauer Medien über die Demonstration der Partei Jabloko auf dem Bolotnaja-Platz am 17. Dezember berichtet und nicht über die Versammlung der Nawalny-Anhänger, dann stünden wir heute vielleicht anders da. Die Geschichte der Protestbewegung hätte möglicherweise einen anderen Verlauf genommen und zu anderen Ergebnissen geführt.
Bereits im März ließ die Beteiligung an den Protestveranstaltungen deutlich nach. Nur die repressiven Maßnahmen der Regierung hielten die Aktionen im Mai und Juni noch am Leben, die offene Frage nach dem „Wohin“ der Bewegung stand freilich unverändert im Raum. Immer wieder ertönte das Mantra „Wenn Millionen auf die Straße gehen, muss Putin zurücktreten“ und erzeugte ein revolutionäres Szenario. Eine Revolution aber ist eine ernsthafte Angelegenheit, die einer wasserdichten Organisation und Disziplin bedarf. Die Ereignisse des 6. Mai zeigten, dass die Leute an der Spitze der Bewegung dazu eindeutig nicht in der Lage sind.
Die Rede Alexej Nawalnys vergangenen Samstag auf dem Sacharow-Prospekt legt nahe, dass die Verantwortung nun ganz in den Händen der Demonstranten liegt. Sie sollen nun „auf die Straße gehen wie zur Arbeit“, sich an seinem Antikorruptionsprojekt „Gute Maschine der Wahrheit“ beteiligen und Geld auf verschiedene Konten für Oppositionszwecke überweisen.
„Wichtig ist, was du für dein Land tun kannst“
Ich habe mich gelegentlich gefragt, ob irgendwann jemand wohl den Mut aufbringen wird, vor die Menschen zu treten und zu gestehen: Wir haben unser Ziel nicht erreicht – entschuldigt bitte. Wir haben euch in eine Sackgasse geführt und nehmen die Verantwortung dafür auf uns. Aber schenkt uns noch einmal euer Vertrauen, denn jetzt haben wir wirklich einen Plan. Aber dergleichen Selbstkritik ist nirgends zu vernehmen.
„Kommt zu uns wie zur Arbeit!“ Wir werden für Interviews bereitstehen und vor euch als Kulisse des Massenprotestes posieren. Viele werden mittlerweile begriffen haben, dass es so nicht weitergeht. Wir haben uns lange genug von den Occupy-Fürsprechern den Kopf vernebeln lassen. Sie haben sich lange Jahre an diese Art des politischen Daseins gewöhnt und sind überhaupt nicht daran interessiert, wirklich etwas zu verändern.
Was tun? Die Antwort auf diese Frage ist klar: Wir müssen unsere Defizite anerkennen, nämlich das Nichtvorhandensein einer wirklichen landesweiten politischen Opposition, die geringe Popularität bei der Bevölkerung und der schlechte Draht zu ihr. Wir müssen auf die Wahlen hinarbeiten. In den nächsten zwei Jahren hat die Opposition gute Chancen, in einigen Regionen ernstzunehmende Wahlergebnisse zu erzielen. Und danach steht uns die Schlacht um Moskau bevor.
Deutlich wird nach all dem auch werden, wie erfolgreich sich die Opposition im nächsten Wahlzyklus gegen Putin behaupten kann und wer tatsächlich den Namen eines Oppositionsführers verdient. Es wird gewinnen, wer die beste Arbeit macht. Und Alexej Nawalny möchte ich den Ausspruch John F. Kennedys mit auf den Weg geben: „Wichtig ist, was du für dein Land tun kannst, nicht das, was das Land für dich tun kann.“
Dieser Beitrag erschien zuerst bei gazeta.ru
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