Die Brücke über die Bucht Goldenes Horn in Wladiwostok. Foto: Witalij Raskalow.
Schon jetzt weht auf der Insel Russki ein anderer Wind. Neben eingefallenen Ziegelstein-Kasernen, die einst von japanischen Kriegsgefangenen erbaut wurden, hat eine Armeeeinheit ihr Zeltlager aufgeschlagen. Freilich wurde dieses nur für den Fall von Ausschreitungen während des APEC-Gipfels eingerichtet. Vorbei sind die Zeiten, in denen ein Militärstädtchen Hauptsiedlungspunkt der Insel war. Diese Stellung nimmt nun der Campus der Fernöstlichen Föderalen Universität ein, den eine Hängebrücke à la San Francisco mit der Stadt verbindet.
Wladiwostok (dt.: „Beherrsche den Osten") ist eine Stadt der Widersprüche: Ursprünglich als Militärfestung errichtet, florierte die Stadt vor allem wegen der Nähe zum Stillen Ozean. Dennoch sind nahezu alle Bewohner der Insel Russki ehemalige Militärs und deren Familienangehörige.
Handel und Militär standen seit jeher in Konflikt zueinander. Doch gleichzeitig ergänzten sie sich auch: In der Hafenstadt wurden enge Handelsbeziehungen zu China, Japan und den Vereinigten Staaten geknüpft, während die Festung vorrangig zum Schutz vor Neidern und Feinden diente.
Im Jahr 1862 erlangte Wladiwostok den Status eines Freihafens,
wodurch Waren zollfrei ein- und ausgeführt werden durften. Schon bald verwandelte sich die gesamte russische Armurregion in ein Schlaraffenland des Freihandels. Massen ausländischer Waren wurden nach Wladiwostok eingeführt und die Stadt war überfüllt mit Kaufleuten aus Deutschland, China und Amerika. Auch die Entwicklung der Infrastruktur wurde vorangetrieben und es entstand eine Vielzahl von Arbeitsplätzen.
„An den Ufern des Stillen Ozeans wurde der romantische Traum von Freiheit und Teilhabe an der globalen Entwicklung geboren", weiß Wladimir Sokolow von der Wladiwostoker Vertretung der Russischen Zollakademie. „Beim russischen Fernost-Imperialismus ging es weniger um die Eroberung von Gebieten. Vielmehr wollte man einen Zugang zum Ozean schaffen, um an der weltweiten Entwicklung teilzuhaben. Heutzutage bezeichnet man das als Globalisierung."
Das kommerzielle Himmelreich im Fernen Osten sollte jedoch nur von kurzer Dauer sein: 1909 verabschiedete man sich vom Freihandel, angeblich um die einheimischen Produzenten zu schützen.
Der pazifische Traum
Doch der Traum von einem neuen Freihafen im pazifischen Küstengebiet blieb seit jener Zeit bestehen. Besonders aktuell war das Thema in den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion, als Wladiwostok nicht länger als geschlossenes Militärobjekt galt.
„Es gab große Hoffnungen: Das Wunder lag in greifbarer Nähe und es schien, als müsste man es nur mit den Händen greifen, als müsste sich Wladiwostok lediglich öffnen, um von der pazifischen Energie erfasst zu werden", erklärt Wladimir Sokolow.
Wladimir Kusnezow ist heute Direktor der Schule für regionale und internationale Forschung der Fernöstlichen Föderalen Universität. Der 36-Jährige war seinerzeit der jüngste russische Gouverneur. Tatsächlich konnte Kusnezow damals viel erreichen: Nachdem Wladiwostok 1991 seine Isolation aufgegeben hatte, eröffneten viele pazifische Länder ein Konsulat, ausländische Firmen eine Niederlassung und Banken eine Filiale. Das Hotel Hyundai wurde gebaut und der Flughafen bekam ein internationales Terminal.
Doch Kusnezow glaubt, dass Wladiwostok in den zwanzig Jahren Marktwirtschaft sein asiatisch-pazifisches Potential nicht ausreichend
genutzt hat. „Meines Erachtens wird die Bedeutung des Gipfels des Asiatisch-pazifischen Wirtschaftsforums stark überbewertet. Das Gipfeltreffen ist ein ganz normales Ereignis, das jedes Jahr stattfindet", findet Kusnezow. „Ja, in Russland wurde es zum ersten Mal ausgetragen, aber immerhin wurde die APEC bereits vor 23 Jahren gegründet. Ich glaube nicht, dass die Zusammenkünfte der pazifischen Staatschefs das Schicksal der Region wesentlich beeinflussen."
Im Zusammenhang mit dem Gipfeltreffen erscheint Kusnezow ein anderes Ereignis viel interessanter: die Einweihung der Fernöstlichen Föderalen Universität. „Ich bin überzeugt, dass diese Universität das beeindruckendste Projekt Russlands im 21. Jahrhundert ist. Für 2012 planen wir die Immatrikulation von 7 500 ausländischen Studenten — so etwas gibt es sonst nur noch an der University of California in Berkeley." Schon jetzt würden zehn englischsprachige Programme angeboten. Der neue Campus soll zur Entstehung einer fruchtbaren Atmosphäre für den Austausch von Ideen beitragen und zum Zugpferd für die Entwicklung der Region werden.
„Wir sind russische Europäer"
Der Schriftsteller Wassili Awtschenko ist ein kultivierter junger Mann mit südländischer Erscheinung und nordischem Charakter. „Was verbindet die Russische Föderation?", fragt er und zählt auf: „Vor allem, natürlich, die Sprache — von den regionalen Eigenarten wollen wir einmal absehen. Zum Zweiten sind da die Willkür der Polizei und der politische Diskurs. Und drittens die gemeinsame Nutzung billiger ausländischer Arbeitskräfte."
Doch schon seit seiner Kindheit kann Awtschenko die geografische Einteilung Asiens nicht nachvollziehen: „Mein kindlicher gesunder Menschverstand weigerte sich zu verstehen, warum der Nahe Osten im Westen liegt. Sogar Sibirien befindet sich im Westen. Warum heißt es, dass die Krim im Süden liegt, wir in Wladiwostok aber im Osten? Noch dazu im Fernen Osten, wo doch Wladiwostok auf einem Breitengrad mit Sotschi, Wladikawkas und Almaty liegt? Aber der Referenzpunkt für die geografische Orientierung war eben immer Moskau."
Die Einheimischen sagen manchmal, dass sie sich eher als Asiaten, denn als Europäer empfinden. Alles Quatsch, meint Wladimir Awtschenko: „Glauben Sie ihnen nicht. Das ist Koketterie. Wir ähneln den Franzosen und Deutschen vielleicht nicht besonders, aber den Chinesen und Japanern ähneln wir noch viel weniger, auch wenn wir uns an sie als Nachbarn gewöhnt haben. Wir sind russische Europäer, die mit der sowjetisch-russischen Kultur in der europäischen Stadt Wladiwostok aufgewachsen sind. Wir sind trotz allem immer noch Russen."
Mit dem Steuer auf der rechten Seite
Auf 1000 Einwohner kommen in Wladiwostok 556 PKW, doppelt so viel wie in Moskau. Wenn man Kinder und Rentner nicht mitrechnet, bedeutet das, dass nahezu jeder erwachsene Werktätige ein eigenes Auto besitzt. Aber anders kann man sich in Wladiwostok einfach nicht fortbewegen. Was öffentlicher Nahverkehr ist, haben die Menschen hier schon vor langer Zeit vergessen.
Schon längst hätte man ein Buch darüber schreiben können, wie die Bewohner der pazifischen Küstenregion um ihren Auto-Freihafen gekämpft haben. Jedes Verbot aus Moskau stieß auf vehementen
Widerstand auf der anderen Seite der Erdkugel. Als im Interesse der einheimischen Produzenten die Einfuhrzölle für mehr als sieben Jahre alte PKW drastisch erhöht wurden, begann man zu einem günstigen Zolltarif Bausätze einzuführen. Wenn schon nicht das ganze Auto, dann holte man eben Karosse und Motor einzeln ins Land. Ein alter Wagen musste dann mit seinen Papieren herhalten, damit das „Auswechseln von Ersatzteilen" offiziell bestätigt werden konnte. Kein Wunder, dass im Fernen Osten der Markt für Gebrauchtfahrzeuge floriert.
Die Erhöhung der Einfuhrzölle auf PKW, die älter als sieben Jahre alt sind, führte 2008 zu einer neuen Art der asiatisch-pazifischen Zusammenarbeit. Der Krieg war verloren, und das Volk wandte sich Putin zu. Auf dem Höhepunkt der Protestdemonstrationen in Wladiwostok entwickelte sich eine Bürgergesellschaft. Menschen, die bis dato nichts mit Politik am Hut hatten, engagierten sich als Wahlbeobachter, und nicht wenige von ihnen stellten sich selbst zur Wahl. In diesem Jahr konnte Putin in Wladiwostok nicht einmal 50 % der Stimmen erlangen. „Soll er doch selbst mit einem Lada fahren!", sagen die Oppositionellen.
Wassili Awtschenko hat sich in seinem Buch Wladiwostok-3000 in ein Fantasieland geflüchtet: die Pazifische Republik. Das Buch ist wohl die erste Utopie der zeitgenössischen russischen Literatur. Es beschreibt die Zukunft einer freien und freudenreichen pazifischen Küstenregion, in der es – wie sollte es auch anders sein – einen Freihafen gibt. Eine Region, frei von den Kabalen der Moskauer Rechts- und Steuerbehörden. Wäre da nicht der separatistische Charakter des Buches, könnte es glatt als Projekt-Leitfaden für die Entwicklung der Region durchgehen. Wassili Awtschenko hält sich selbst jedoch nicht für einen Separatisten.
„Bei aller Liebe zum Fernen Osten habe ich doch verstanden, dass es Werte gibt, die für mich eine größere Bedeutung haben. Ich habe nicht vor, Ladas anzuzünden und bin auch nicht für eine Loslösung." Die Integrität Russlands, sowohl die kulturelle als auch die administrative, ist für Awtschenko wichtiger. „Wenn die Proteste wieder losgehen sollten, werde ich natürlich dabei sein. Aber ich habe keine separatistischen Neigungen. Würden wir uns loslösen, so wären wir zwar die Moskauer Gangster los, wären aber unseren eigenen ausgeliefert – und die sind noch schlimmer!"
In der Region hat sich mittlerweile fast so etwas wie eine Rechtssteuer-Religion herausgebildet, zu deren revolutionärem Pathos sich der Schriftsteller hingezogen fühlt. „Aber ich erkenne auch ihr explosives, separatistisches Potential", räumt Awtschenko ein. „Die Rechtssteuerung ist nach wie vor ein Symbol für die russische Präsenz im Fernen Osten. Aber sie könnte auch zur Bruchlinie werden."
In der vibrierenden nächtlichen Luft flimmert jenseits der Brücke der Arbeiterbezirk Tschurkin, er ähnelt dem nächtlichen Japan. Doch Wladiwostok scheint bei Nacht alle bezaubernden Städte der Welt zu vereinen. So schön, dass man nur zu gern an die pazifische Zukunft glauben möchte.
Die ungekürzte Fassung dieses beitrags erschien zuerst in der Zeitschrift Russkij Reporter.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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