Bild: Dan Potozkij
Die jüngsten Ereignisse im Nordkaukasus haben anschaulich gezeigt, wie aufgeheizt die Stimmung in der Nationalitätenfrage ist. Sie äußerte sich beispielsweise durch die Polemik des Präsidenten der russischen Kaukasusrepublik Tschetschenien zur Grenzfrage, die Ermordung von
Scheich Said Afandi, des geistlichen Führers der Muslime in der Republik Dagestan oder durch die Absicht Alexander Tkatschews, Gouverneur der südrussischen Region Krasnodar, Kosakenpatrouillen aufzustellen und sie zum Schutz vor Migranten aus den angrenzenden Kaukasusgebiete einzusetzen. Das Vorhaben Tkatschews versucht unverhohlen, Bürger ein und desselben Landes gegeneinander auszuspielen. Denn dem Gouverneur geht es nicht etwa darum, illegale Zuwanderung aus angrenzenden Staaten zu unterbinden, sondern Bürger Russlands auszugrenzen, die im Nordkaukasus leben.
Es ist höchste Zeit, die „Nationalitätenfrage" offen anzusprechen. Dazu muss man sich eingestehen, dass jede Vielvölkergemeinschaft – selbst in hochentwickelten und reichen Ländern – mit der Gefahr von ethnischen Spannungen und separatistischen Bestrebungen lebt. Spanien, Belgien, Großbritannien, Frankreich oder Kanada - sie allen haben Konflikte dieser Art erlebt.
Am interessantesten für das heutige Russland dürften aber die Erfahrungen der USA sein. Die Rassenunruhen des Jahres 1968 – ausgelöst durch die Ermordung des farbigen Bürgerrechtlers Martin Luther King – brachten das Land an den Rand eines Bürgerkrieges. Heute, vier Jahrzehnte später, ist die Rassentrennung in den USA kein politisches Problem mehr (wenngleich aber noch ein soziales). Die farbigen Bürger der Vereinigten Staaten sind erfolgreich in die amerikanische Gesellschaft integriert. Zeugnis dafür legen Farbige in der Öffentlichkeit ab: Präsident Barack Obama oder Außenminister früherer Regierungen und Tausende von Medienstars und Sportlern, die zum Idol erkoren werden.
Auch die gegenwärtigen ethnischen Exzesse in Russland müssen nicht unbedingt zum Zerfall des Landes führen. Um Spannungen zwischen den Nationalitäten innerhalb Russlands abzubauen, muss vor allem die nationale Politik novelliert werden. Eine zentrale Rolle muss der Sprache, dem gesellschaftspolitischen Sprachgebrauch sowie den nationalen Symbolen eingeräumt werden. Solange das nicht gelingt, werden verschiedene Nationalitäten, ethnische Gruppen und Minderheiten versuchen, mit ihren Vorschlägen und Vorstellungen in das Vakuum vorzustoßen. Spätestens dann wird die verbindende Idee, nämlich ein Russland als Staat aller Bürger – unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit – verblassen.
Bedauerlicherweise wurde die Nationalpolitik zu lange darauf reduziert, den einen ethnischen Gruppe Privilegien zu gewähren und anderen ethnischen Gruppen mit immer neuen Auflagen und Sanktionen das Leben schwer zu machen. Leider beschränkte sich diese Haltung nicht nur auf gesellschaftliche Randgruppen oder gar Extremisten, sondern machte auch vor Vertretern der Regierungspartei nicht halt. Ihre Politik wurde mit der Praxis der „Registrierung" für Zugereiste, zu denen auch Bürger aus anderen Regionen Russlands zählen, umgesetzt.
Das führte dazu, dass sich die gesellschaftlichen Beziehungen nicht an den einzelnen Menschen und Bürgern orientierten, sondern vielmehr an den „kollektiven Persönlichkeiten" verschiedener Ethnien, was den Zerfall und die Segmentierung der russischen Gesellschaft beschleunigt.
Doch es hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass eine derartige „Abschottung nicht funktionieren kann, weil dem
geographische, demographische und wirtschaftliche Aspekte entgegenstehen. Wenn die Bevölkerung in den nordkaukasischen Republiken wächst und die wirtschaftlichen Ressourcen in Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien physisch nicht mehr ausreichen, lässt sich die Abwanderung der „Überzähligen" durch keinerlei Kordons verhindern. Ja mehr noch, derartige Zuwanderungen wirken sich sogar günstig für das gesamte Land aus. Ohne innere Migration ist die Wahrscheinlichkeit, dass der kaukasische Kessel politisch explodiert, weitaus größer.
Folglich sollte sich die Politik nicht für „gute Russen" oder „gute Kaukasier" starkmachen, sondern darüber nachdenken, wie sich die verschiedenen ethnischen Gruppen um eine gemeinsame, systembildende Idee vereinen lassen. Die Nationalpolitik sollte das Konzept einer „Staatsbürgernation" verfolgen und damit die politische Identität statt des „Blutsprinzips" in den Fokus rücken.
Dass diese Ansicht langsam Anhänger findet, zeigte sich im August 2012, als in Saransk in der Teilrepublik Mordowien der Rat für Zwischennationale Beziehungen tagte. Dieser Rat wurde neu eingerichtet und ist direkt dem Präsidenten der Russischen Föderation unterstellt. In Saransk wurden erste Versuche unternommen, neue konzeptuelle Grundlagen für die Politik des Landes in diesem sensiblen Bereich zu erarbeiten.
Valeri Tischkow, Direktor des Instituts für Ethnologie und Anthropologie an der Russischen Akademie der Wissenschaften, sagte dazu: „Die Rechte der Minderheiten und die Rechte der Mehrheit können nur in einem gemeinsamen Raum wahrgenommen werden. Jede territoriale oder im kulturelle Isolierung einzelner Nationalitäten kann sich zerstörerisch auf den Staat auswirken."
Die Tendenzen zur Abschottung einzelner Regionen, zu Fremdenfeindlichkeit, ethnisch motivierter Kriminalität oder gar zu Pogromen und Terror können nur durch die Bildung einer geeinten politisch-staatsbürgerlichen "Nation Russland" verhindert werden. Je eher die Erarbeitung einer neuen, modernen Nationalpolitik auf der Basis staatsbürgerlich-politischer Gemeinsamkeit und Loyalität anstelle des Blutsprinzips gelingt, desto eher kommt das Land einer tatsächlichen und nicht nur proklamierten nationalen Einheit näher.
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