Zwar steht in Russland keine Freiheitsstatue, die Einwanderer begrüßt. Aber ein Einwanderungsland ist Russland in jedem Fall, gerade auch für Deutsche. Und anders nach Amerika kamen die Ausländer nicht nur aus eigenem Antrieb ins Land, sie wurden von den Regierenden regelrecht angeworben. Schon Zar Iwan der Schreckliche holte westliche Spezialisten, um Russland zu modernisieren, gleiches taten seine Nachfolger Peter I und Katherina II. Peter gemeindete außerdem ein Stück Westen in sein Imperium ein, in dem er die baltischen Ostseeprovinzen eroberte.
Von den Deutschen in russischen Diensten war in „Russland Heute" schon oft die Rede, aber auch Schweizer (zum Beispiel der Mathematiker Leonhard Euler oder François Le Fort, ein Vertrauter
Peters I.), Franzosen (der General Alexandre de Langeron, der hugenottische Juwelier Gustav Fabergé), Schotten (der petrinische General Patrick Gordon, der Dichter Michail Lermontow und der Feldmarschall Michail Barclay de Tolly), Spanier (José de Ribas, der Gründer Odessas), Italiener (der Architekt Francesco Rastrelli) lebten in Russland und bereicherten seine Kultur. Nur wenige Staaten der alten Welt haben Menschen verschiedenster Herkunft solche Möglichkeiten geboten: Sowohl Einwanderer aus dem Westen als auch Vertreter unterworfener Völker im Osten und Süden konnten bis in die höchsten Etagen der russischen Gesellschaft vordringen. Diese Offenheit hat jedoch eine Kehrseite. Immer wieder, in Zeiten der Krise und der Bedrohung, machten die russischen Eliten die im Land lebenden Ausländer für die Probleme im Inneren verantwortlich.
Mal waren bestimmte Volksgruppen verdächtig, mal Organisationen, die tatsächlich oder angeblich im Interesse feindlicher Mächte Wühlarbeit betrieben. Aus diesem Grunde wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert die Jesuiten und die Freimaurer verboten. Unter Stalin wanderten zahlreiche ausländische Spezialisten, die die junge Sowjetunion ins Land gerufen hatte, als Spione und Volksfeinde in die Lager. Gerade die in Russland lebenden Deutschen wurden immer wieder verdächtigt, Agenten des Auslands zu sein. Zuletzt als die deutsche Wehrmacht im Jahr 1941 die sowjetische Grenze überschritt. Die Russlanddeutschen wurden prophylaktisch als Kollaborateure beschuldigt und nach Sibirien und Kasachstan verbannt.
Auch heute hört diese Pendelbewegung nicht auf. Konnten die Russen und ihre Politiker in den 1980er und frühen 90er Jahren nicht genug vom Westen haben, geht man seit der Wende zum neuen Jahrtausend wieder auf Distanz. Das bekommen auch ausländische NGOs zu spüren, die in Russland arbeiten. Die Regierung verdächtigt sie, um es im Klartext zu sagen, im Auftrag Amerikas den Umsturz zu betreiben.
Die Entwicklungshilfe-Agentur USAID hat das jetzt zu spüren bekommen. Dass gerade die großen amerikanischen NGOs und
Hilfsorganisationen eng mit den US-Geheimdiensten zusammenarbeiten und nicht nur aus edlen Motiven ihre Büros in strategisch wichtigen Ländern betreiben, ist kein Geheimnis. Dennoch haftet aus der historischen Gesamtschau gesehen dem russischen Hin und Her im Verhältnis zum Ausland und seinen Vertretern etwas Irrationales an. Einerseits braucht man immer wieder ausländische Hilfe, um das Land zu modernisieren, aber nach einer bestimmten Zeit wird man unruhig, sieht die Fremden als Gefahr, auch wenn sie sich längst assimiliert haben.
Natürlich ist Xenophobie keine russische Erfindung. Auch Deutschland hat immer wieder ausländische Arbeitskräfte angeworben, was bei der Bevölkerung nicht nur auf Begeisterung stieß. Und natürlich verzeichnet die deutsche Geschichte Ausbüchen von extremstem Nationalismus. Aber das ist kein immer wieder kehrendes Muster, wie das russische Pendeln zwischen Öffnung und Isolation, zwischen dem xenophilen Reformator Peter I. und dem reaktionären Chauvinisten Alexander III.
Der Streit zwischen Westlern und Slawophilen, zwischen Liberalen und Patrioten ist eine Grundkonstante russischer Politik. Wo dabei die Sympathien des Auslands liegen ist klar. Aber die Gleichung „westlich-liberal = gut für Russland" geht nicht ohne Rest auf. Schon Peter, der Stammvater der Modernisierer, war bekannt für seinen Hang zum Exzess. Er schnitt den Bojaren der Bärte ab, zwang seine Untertanen, nach holländischer Art die Pfeife zu rauchen, folterte höchstpersönlich seinen Sohn und verprügelte sogar seine treuesten Gefolgsleute.
Der Reformer Jelzin und seine Mannschaft hätten Russland Stück für Stück an das Ausland verkauft, wären sie länger an der Macht geblieben. Solche Extreme rufen regelmäßig ebenso extreme Gegenreaktionen hervor, die nach einiger Zeit wiederum den Ruf nach Reformen laut werden lassen. Dieser Schlingerkurs bedeutet eine gewaltige Kräfteverschwendung für Russland. Trotzdem ist das Land dabei nicht zu Grunde gegangen, sondern wurde auf lange Sicht sogar noch stärker.
Das liegt auch daran, dass es immer wieder Perioden gab, in denen sich Aufklärung und Machtpolitik, Modernisierung und Bewahrung die Waage
hielten. Zwischen den Extremen Peter I. und Alexander III. steht Katharina II. Ihre Regierung gilt als goldenes Zeitalter Russlands. Die Zarin gab sich gern betont russisch, kapselte sich aber auch nicht vom Ausland ab. Vielleicht wählte sie deshalb diesen Kurs der Mitte, weil sie eigentlich eine Ausländerin ohne eigenes Anrecht auf den Thron war. Keine schlechte Karriere für eine deutsche Provinz-Prinzessin. Auch ohne Freiheitsstatue und trotz aller Probleme war Russland für Immigranten eben immer ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
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