Foto: Horst Tappe
Vladimir Nabokov: Getty Images/Fotobank |
1922 war für ihn ein tragisches Jahr. Die aus St. Petersburg stammende, sehr wohlhabende, kosmopolitisch denkende und kunstsinnige Familie war 1918 emigriert. Der Vater, Jurist und liberaler Duma-Abgeordneter, hatte es nicht vermocht, in London Fuß zu fassen und übersiedelte nach Berlin, wo sich in den frühen 20er- Jahren über 300 000 Russen aufhielten, die nach der Oktoberrevolution geflohen waren. Vladimir, der Sohn, studierte in Cambridge, kam aber zu gelegentlichen Besuchen an die Spree, wo es viele russische Verlage und Zeitungen und eine rege politische Aktivität der Emigranten gab, an der sich der Vater beteiligte.
Am 28. März wohnte der Vater in der Philharmonie dem Vortrag eines Exilpolitikers bei. Als ein Attentäter auf den Referenten schoss, versuchte Nabokov diesen zu entwaffnen, wurde aber tödlich getroffen. Der mutige Retter wurde auf dem russischen Friedhof im Bezirk Tegel beigesetzt. (Das Grab ist erhalten.) Einige Monate später übersiedelte Nabokov junior in die deutsche Hauptstadt. Er begann mit Publikationen in der russischen Exilpresse, schrieb Liebesgedichte und Erzählungen. Seine Texte veröffentlichte er unter dem Pseudonym V. Sirin, nach dem Zaubervogel einer russischen Sage.
Zum Leben reichten die literarischen Einkünfte nicht. So versuchte er sich als Tennis- und Boxtrainer, spielte als Torwart in einer Fußballmannschaft. Überdies verdiente er als Komparse in den Babelsberger Studios Geld. Fotos zeigen Nabokov als eleganten, sehr melancholischen, stets adrett gekleideten Dandy, dessen Erscheinung auch auf der Leinwand wirksam gewesen sein muss.
Mitte der 20er-Jahre wird Paris bedeutsamer als Zentrum der russischen Emigration, Nabokov bleibt jedoch in Berlin – und der russischen Sprache treu. Angeblich soll er sich von deutschen Einflüssen abgeschottet haben. Schaut man genauer hin, findet man in seinem Frühwerk jedoch wunderbare Beschreibungen von Stadtleben und Natur dieser Metropole wie bei kaum einem deutschen Zeitgenossen dieser aufgeregten und gar nicht so goldenen Jahre.
Im Mai 1923 lernte Nabokov die russische Jüdin Vera Slonima kennen. Im Frühjahr 1925 heirateten sie, verbrachten ihre Ferien wie so viele Berliner an der Ostsee. 1934 wurde in Berlin der Sohn Dmitri geboren, später Opernsänger und Nachlassverwalter des Vaters.
Seinen Durchbruch erzielte Nabokov 1925 mit dem Roman „Maschenka“, der 1928 als „Sie kommt – kommt sie?“ auf Deutsch erschien. Nach dem großen Erfolg von „König, Bube, Dame“ erhielt er genügend Tantiemen und musste fortan keine Gelegenheitsjobs mehr annehmen.
1937 wurde die Atmosphäre in Berlin immer unerträglicher, und die Familie verließ das Land, lebte an der Côte d’Azur, dann in Paris, nahm aber schließlich den Weg über London in die USA und entging so den Kriegsjahren in Europa. Mit dem in Paris begonnenen Roman „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ begann Nabokovs englische Periode, der von nun an unter seinem wahren Namen veröffentlichte. Der Sprachwechsel war für Nabokov eine persönliche Tragödie, und doch war er die Voraussetzung für seinen Weltruhm nach 1950.
Das schönste Echo findet Nabokovs Berliner Zeit in seinem Roman „Die Gabe“. Von der Hauptfigur, dem Emigranten Fjodor, heißt es dort: „Er ging durch die Straßen, die sich schon lange in seinen Bekanntenkreis eingeschlichen hatten und, als sei das nicht genug, mit seiner Zuneigung rechneten; schon im Voraus hatten sie in seinen zukünftigen Erinnerungen einen Platz neben St. Petersburg gekauft, ein Nachbargrab.“
Manfred Flügge lebt als Schriftsteller in Berlin. Er schreibt Romane, Theaterstücke und Biografien. Sein Buch „Muse des Exils. Das Leben der Malerin Eva Herrmann" erscheint am 13. Oktober 2012.
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