Den Tod mit der Macht der Worte überwinden

Schriftsteller Michail Schischkin: „Die Sprache ist mein Feind, und ich muss sie bezwingen, damit sie das sagt, was ich fühle.“  Foto: Getty Images/Fotobank.

Schriftsteller Michail Schischkin: „Die Sprache ist mein Feind, und ich muss sie bezwingen, damit sie das sagt, was ich fühle.“ Foto: Getty Images/Fotobank.

Der Schriftsteller Michail Schischkin erzählt über die Unübersetzbarkeit russischer Kosenamen und seine Motivation zu schreiben.

Russland HEUTE: Die Charaktere in Ihrem neuen Buch „Briefsteller" erleben immer wieder Momente, in denen sie nicht bei sich selbst sind, sondern eins zu sein scheinen mit einem anderen oder ihrer Umgebung. Haben Sie als Schriftsteller Sehnsucht danach, Dinge zu beschreiben, die hinter der Wirklichkeit liegen?

Michail Schischkin: Ich schreibe sehr selten, ich schaffe nur einen Roman alle paar Jahre. Ich habe auch eine Erklärung dafür. Im Grunde genommen schreibe ich immer dasselbe Buch, beantworte immer die gleichen Fragen.

Die Gedanken dazu sind schon sehr alt: Als ich sechs oder sieben war, begleitete ich meine Großmutter von der Datscha zum Einkaufen. Da

Michail Schischkin: "Briefsteller". Aus dem russischen von Andreas Tretner. DVA 2012. 384 Seiten.

sahen wir am Straßenrand eine tote Katze. Alle Passanten gingen vorbei, doch meine Großmutter ging nach Hause, um einen Spaten zu holen. Sie hat die Katze dann begraben. Und da kamen die Gedanken – werde ich auch mal so sterben wie diese Katze? Und all die, die ich liebe, meine Mutter, mein Bruder, meine Großmutter? Wie gehe ich mit dem Tod um? Und die einzige Möglichkeit, die ich gefunden habe, ist zu schreiben. Die Fragen bleiben gleich, egal ob du sie dir mit 16 stellst oder mit 50, aber die Antworten ändern sich. Als junger Mensch denkt man, dass man den Tod mit der Macht der Worte überwinden kann, doch selbst, wenn es einem gelingt, gehen die Worte doch alleine und ohne dich in die Unsterblichkeit. Sie verlassen dich genau wie die Kinder, die du großziehst. Und erst mit dem Älterwerden kannst du verstehen, dass der Tod nicht dein Feind ist, gegen den du kämpfen musst.

„Briefsteller" ist ein Roman, bei dem es um dieses Verstehen geht. Das Leben besteht normalerweise aus Missverständnissen. Und nur Liebe bringt einen dazu, dass es einem wichtig wird, besser verstehen zu wollen, um die Missverständnisse zu überwinden. Liebe heißt: Da draußen gibt es einen Menschen, für den alles, was für dich wichtig ist, auch von Bedeutung ist. Und es ist für dieses Gefühl nicht entscheidend, wo sich diese Person befindet. Und für das Gefühl spielt es auch keine Rolle, ob der Mensch noch lebt oder schon gestorben ist.

Die Menschen in meinem Roman sind durch Raum, Zeit und sogar durch den Tod getrennt, aber sie fühlen sich trotzdem.

Aber ihre Perspektiven verändern sich.

Ja. Normalerweise geschieht das durch das Älterwerden. Der junge Mann, Wolodja, hasst am Anfang seine Mutter und seinen Stiefvater; aber durch die Begegnung mit dem Tod lernt er, die wichtigen Dinge besser zu verstehen.

Eine russische Freundin habe ich einmal mit Maschka statt Mascha angeredet und erst nach ihrer Erklärung verstanden, warum das nicht angemessen war. Das Liebespaar Alexandra und Wladimir reden sich mit einer Fülle von Kosenamen an, deren Bedeutung kaum ins Deutsche übertragen werden kann. Wie gehen Sie mit dem „Verlust" einer Übersetzung in eine fremde Sprache um?

Wenn ich auf Russisch schreibe, muss ich kompromisslos sein: Die Sprache ist mein Feind, und ich muss sie bezwingen, damit sie zumindest in etwa das sagt, was ich fühle, was in meinem Kopf ist. In Übersetzungen

Michail Schischkin wurde mit den drei wichtigsten Literaturpreisen Russlands ausgezeichnet. 1961 in Moskau geboren, lebt er heute in Berlin, der Schweiz und seiner Geburtsstadt.

geht naturgemäß viel verloren, wie eben der Subtext von Mascha und Maschka, wie Sie sagen. Als ich die Probearbeiten von drei Übersetzern für die englische Fassung von „Briefsteller" bekam, war kein einziger Satz der drei Fassungen gleich. Es wären drei verschiedene Romane geworden. Es war sehr schwer, eine Entscheidung darüber zu fällen, wer den Roman übersetzen soll. Es ist immer ein Kompromiss, eine Frage des Vertrauens, welchem Übersetzer man das Buch anvertraut. Andreas Tretners Übersetzung ins Deutsche ist sehr gut, und ich bin ihm sehr dankbar, aber es ist mein Buch durch seine Augen. Wichtig war für mich in diesem Buch, nichts zu erfinden. Von allen diesen Gefühlen weiß ich, dass ich sie gefühlt habe, oder jemand, der es mir erzählt hat, persönlich oder durch einen Brief.

Das Buch ist voller persönlicher, intensiv emotionaler Eindrücke Ihrer Charaktere, die sich in anekdotenhaften kleinen Geschichten äußern. War es Ihre Absicht, dass durch diese Geschichten eigene transzendierende Erfahrungen in Ihren Lesern wachgerufen werden – gerade in den Fragen rund um die Vergänglichkeit?

Das, worum es eigentlich geht, können Worte ja nicht beschreiben. Das ist das Dilemma des Schriftstellers, und vielleicht ist da der Anfang meines Schriftstellerdaseins.

Mit 16 war ich in ein Mädchen verliebt, und ich hatte mir vorgenommen, ihr eine Liebeserklärung zu machen. Aber als ich vor ihr stand, bekam ich den Mund nicht auf. Ich konnte es nicht in Worte fassen. Und seitdem ist es immer wieder ein Kampf, das, was wirklich wichtig ist, in das banale Gerüst der Worte zu packen.

Und dieser Kampf wird nicht leichter, er bleibt immer gleich schwer. Aber es ist jedes Mal ein Glück, wenn ein Satz gelungen ist.

Das Gespräch führte Balthasar von Weymarn.

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