Die neue Achmad-Kadyrow-Moschee in Grosny ist zum Symbol einer Ära des Friedens geworden. Foto: RIA Novosti.
Wie bereits im vergangenen Jahr gaben sich am „Tag der Stadt" in Grosny Stars und Prominente die Klinke in die Hand. Vor der Kulisse der Wolkenkratzer von Grosny City traten der britische Sänger Craig David und der französische Schauspieler Gérard Depardieu auf. Der tschetschenische Präsident Kadyrow selbst tanzte mit der italienischen Schauspielerin Ornella Muti den kaukasischen Volkstanz Lesginka. Ein echtes Medienspektakel also, bei dem man schnell vergisst, dass die Stadt durch die Kriege in Tschetschenien nahezu vollständig zerstört wurde.
Doch in diesem Herbst wirkt Grosny schon nicht mehr ganz so roh wie einst. Mit einem Revolver im Hosenbund durch die Straßen zu schlendern, scheint ein wenig aus der Mode gekommen zu sein. Vielleicht sind es die Menschen aber auch einfach leid. Die Polizei ist heute weniger präsent und die Gesichter der Passanten wirken entspannter. Das Zentrum blitzt vor Sauberkeit, dem strahlenden Weiß der Fassaden und den glänzenden Schaufenstern der Cafés. Über der Pracht erheben sich die Türme des Büro- und Wohnkomplexes Grosny City, die zum Symbol einer neuen Zeit geworden sind, einer Ära des Friedens und Wohlstands.
In einem Café treffe ich mich mit Assja. Anfang der 90er Jahre hatte sie gerade ihren Schulabschluss in der Tasche, beide Kriege hat sie in Tschetschenien miterlebt. Die Bedienung reicht uns zwei iPad-Speisekarten. Auf der Straße habe ich nicht ein einziges Tablet gesehen, doch hier im Café ersetzt es die herkömmliche Speisekarte. Was für ein Kontrast! Anscheinend schaut man hier nicht aufs Geld.
„Haben Sie schon einen Spaziergang durch die Stadt gemacht?", fragt Assja. „Sind Ihnen die jungen Frauen aufgefallen? Wenn Sie wüssten, wie traurig es mich macht, dass sie bis zum Boden in Abayas gehüllt sind. Ich habe nichts gegen die freie Religionsausübung, aber so etwas hat es hier bisher nicht gegeben." Ramsan gefällt es, wie sich die Frauen in Dubai kleiden und darum sollen sie es ihnen hier gleichtun. In ein bis zwei Jahren sind die Frauen zu Schatten geworden. Aber Ramsan scheint davon langsam selbst nicht mehr so begeistert zu sein. Er sagt, so habe er das nicht gemeint.
Tatsächlich fällt auf, dass es heute in Grosny deutlich mehr islamisch gekleidete Leute gibt. Neue islamisch-wajnachische Kleidervorschriften wurden auch für die Männer eingeführt. Entsprechend dem Koran sollen
die Tschetschenen freitags besondere Kleidung tragen: eine violette Hose und ein passendes Hemd. Mittlerweile sind die jungen Männer an diesem islamischen Feiertag kaum voneinander zu unterscheiden. Die Tschetschenen selbst nennen sie manchmal ironisch „Freitags-Jungs". Traditionell praktizieren die Tschetschenen eine Form des sufistischen Islam, der stark mit eigenen, älteren Bräuchen durchsetzt ist. Sie verstehen nicht, warum Kadyrow in Tschetschenien einen islamischen Staat nach saudiarabischem Vorbild aufbauen will.
Fakt ist: Im Westen ist Ramsan Kadyrow nicht beliebt und auch die Unterstützung seiner russischen Bündnispartner wird nicht ewig halten. Daher versucht er im Osten Fuß zu fassen. Seine guten Beziehungen zu arabischen Scheichs geben ihm Rückhalt und decken das Hinterland, falls es zu Konflikten mit Moskau kommen sollte.
„Ramsan sei gedankt"
Ein nennenswerter Anteil der Bevölkerung ist Kadyrow aufrichtig dankbar und es gibt nicht wenige, die rundum zufrieden sind. Schließlich wurde Grosny vollständig wieder aufgebaut, nachdem es nach zwei Kriegen in Schutt und Asche lag. Viele der Besucher des Cafés, in dem wir sitzen, haben ihre gesamte Kindheit in Luftschutzbunkern verbracht. Jetzt herrscht hier nicht nur Friede, Grosny hat auch Anschluss gefunden an das moderne Leben und seinen verlockenden Glanz. Einige Taxifahrer fragen mich stolz, ob mir die Stadt gefalle. Aus ihrem Mund hört man, was auf zahlreichen Plakaten in der Stadt zu lesen ist: „Ramsan sei gedankt."
Doch es gibt auch Andersdenkende. Nach wie vor werden in Tschetschenien Menschen gekidnappt. Es gibt Hunderte solcher Fälle, von denen keiner je aufgeklärt wurde. Den Verwandten der Vermissten helfen die strahlenden Lichter von Grosny City nicht weiter. Nichts kann ihnen ihre Familienangehörigen zurückbringen.
Wenngleich es in der Stadt keine Nachtclubs im herkömmlichen Sinne gibt, herrscht doch ein reges Nachtleben. Fragt man einen Taxifahrer, wo man hier ein Bier trinken gehen kann, kann der einem meist nicht weiterhelfen. Nach dem Willen des Präsidenten herrscht Alkoholverbot. Die Wirklichkeit aber sieht anders aus: In einem Umkreis von drei Kilometern findet sich ein halbes Dutzend Lokale, in denen ganz offen ossetisches Bier ausgeschenkt wird.
Mit ein wenig Geschick kommt man hier sogar an Wodka. Es ist nicht verboten zu trinken, wird aber traditionell nicht gutgeheißen. Ein Sohn trinkt nicht in Gesellschaft des Vaters und tritt ihm auch nur nüchtern unter die Augen. Alles andere käme Ungehorsam gleich. Und das religiös begründete Alkoholverbot wirkt sich tatsächlich auf das Trinkverhalten aus, aufgrund der geringen Nachfrage gibt es nur relativ wenige Bars und Kneipen.
Arbeitslosigkeit und Armut gehören noch immer zum Alltag
Doch wer in Grosny trinkt, ist ein Genießer. Gebildete und nachdenkliche Männer jenseits der Dreißig philosophieren über ihren Gläsern über die dunklen Gefilde der Politik. Dabei senken sie nicht etwa ihre Stimme oder werfen verstohlene Blicke in die Runde, obwohl direkt hinter dem Schafs-Schaschlik eine Gruppe Polizisten sitzt. Die kritischen Äußerungen sind meist nur heiße Luft und gehen nicht sonderlich tief. Am Tisch sitzen fast nur Arbeitslose – die einen ungewollt, die anderen aus Überzeugung. Außerhalb der Verwaltungs- und Polizeistrukturen findet man nach wie vor keine Arbeit und so mancher Journalist ist es leid, jeden Tag über Bauobjekten zu berichten, deren Inbetriebnahme das Plansoll übersteigt.
Zehn Minuten Fahrtzeit vom zentralen Putin-Prospekt entfernt liegt die Siedlung Kirowo. Zwar gehört auch sie zu Grosny, doch vom neuen
Wohlstand der Großstadt fehlt jede Spur. Reihe an Reihe stehen hier niedrige und baufällige Häuschen hinter angerosteten Zaunstäben, die noch mit sowjetischen Ornamenten verziert sind. Die Häuser zerfallen, es gibt keine Straßen. In der Siedlung gibt es einen kleinen Lebensmittelladen, eine abgemagerte Kuh wandert von Zaun zu Zaun. Einige alte Frauen klagen über ihre armseligen Hütten oder Schuppen. Die 300 000 Rubel (ca. 7500 Euro) Entschädigung für ihre im Krieg niedergebrannten Häuser waren nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Vor allem aber sind fast alle Bewohner der Siedlung krank.
„Warum kommt Ramsan Kadyrow mit seinen Bauprojekten nicht auch zu uns?", fragt eine empörte 70-jährige Tschetschenin. „Wo sind seine berühmten Ärzte? Wir haben hier alle in der Erdgasverarbeitung oder für die Eisenbahn gearbeitet. Mit vierzig ist hier niemand mehr gesund. Aber jetzt braucht uns ja keiner mehr. Am Ende der Straße hat mal ein Heiler gelebt, aber der konnte uns auch nicht helfen."
Eine Nachbarin hat uns gehört und fragt uns besorgt nach unserer Erlaubnis zum Fotografieren. Ihr selbst sei das ganz egal, es ginge hier allein um unsere Sicherheit. Von einem kleinen Hügel in Kirowo aus kann man die glänzenden Türme von Grosny City sehen. Aber für die Alten ist der Weg auf den Hügel zu anstrengend.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Zeitschrift "Ogonjok".
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!