Träumen vom morgen: Coverbild des populären Magazins „Technika Molodeschi“ (Jugendtechnik). Foto: Magazin „Technika Molodeschi“.
Träumen vom morgen: Coverbilder des populären Magazins „Technika Molodeschi“ (Jugendtechnik)
In sowjetischen Zeiten, als man mit Sputnik und Gagarin dabei war, den Weltraum zu erstürmen und der Generalsekretär der KPdSU prophezeite, nun könne man auch in 20 Jahren den Kommunismus aufbauen, erlebte die „Wissenschaftliche Fantastik“, wie der russische Alternativterminus zur Science-Fiction lautet, ihren ersten Boom. Kommunistische Zukunftsutopien, kybernetische Wunderwelten und außerirdische Zivilisationen markierten den Ausbruch aus der ideologischen Enge der spätstalinistischen Gesellschaft.
Iwan Jefremow, Arkadi und Boris Strugatski, Jeremej Parnow oder der polnische Schriftsteller Stanisław Lem erfanden eine „andere SF“, die sich sehr schnell von den kommunistischen Zukunftsprognosen verabschiedete und stattdessen auf fernen Planeten gesellschaftskritische Allegorien auf den sozialistischen Alltag entwickelte. Die Tristesse der Stagnationsperiode von Mitte der 1960er bis Anfang der 80er-Jahre findet sich nirgends so eindrücklich diagnostiziert wie in den SF-Werken jener Jahre.
Romane der Brüder Strugatzki wie „Ein Gott zu sein ist schwer“ (1964) oder „Die zweite Invasion der Marsianer“ (1967) entwerfen an ihrem menschlichen Verstand verzweifelnde Erdenbürger, die destruktiven Gesellschaftsordnungen und im Verborgenen operierenden Mächten gegenüberstehen. Andrej Tarkowskis Filme „Solaris“ und „Stalker“ machten die düsteren Gegenwartsvisionen international bekannt.
Als 1991 die Sowjetunion verschwand und unter Boris Jelzin die Zeit der kapitalistischen „Schocktherapie“ anbrach, verlor die systemkritische SF
ihre Existenzgrundlage. Die russischen Leser stürzten sich auf westliche Bestseller mittelalterlicher Fantasy und interstellarer Space Operas. Erst als mit Wladimir Putin wieder der starke Staat als Ordnungsmacht die politische Bühne betrat, erlebte die russische Fantastik ein Comeback. Diese neue Welle adaptierte die Genrekonventionen westlicher Vorbilder, wobei sie an die antiutopischen Traditionen ihrer sowjetischen Vorgänger anknüpfte. Die neue Massenliteratur musste nicht mehr systemkritische Allegorien in interplanetare Dimensionen extrapolieren, sondern verwandelte mit Vorliebe die Traumata der sowjetischen Vergangenheit und der postsowjetischen Gegenwart in unterhaltsame Katastrophenvisionen.
Sergej Lukianenko startete 1998 seinen Wächter-Zyklus, dessen Verfilmungen durch Timur Bekmambetow („Wächter der Nacht“, 2004) alle Kassenrekorde sprengten. Er ließ anstelle der mythenumrankten russischen Geheimdienste allmächtige dunkle und helle „Andere“ im Verborgenen operieren, die das menschliche Schicksal steuern.
Doch während die sowjetischen Fantastikhelden meist rational handelnde Intellektuelle waren, die an der Unveränderlichkeit unmenschlicher Zustände verzweifelten, ist es nun die fundamentale Erschütterung aller Moralvorstellungen, die die meist jugendlichen, männlichen Protagonisten dazu bringt, mithilfe von Intuition, Magie und roher Gewalt ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. So dürfen sie als Katastrophenspezialisten und Weltenträumer sich selber und die ganze Welt vor den Menschheitsübeln korrupter Politiker, kriegslüsterner Militärs und pathologischer Größenwahnsinniger retten.
Matthias Schwartz ist Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. In seinem Buch „Die Erfindung des Kosmos“ widmet er sich der russischen Science-Fiction.
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