Fantastisches Russland

Sowjetische Schriftstellerbrüder Arkadi und Boris Strugatzki. Foto: TASS

Sowjetische Schriftstellerbrüder Arkadi und Boris Strugatzki. Foto: TASS

In der modernen russischen Literatur werden fantastische Orte entworfen, die doch alle auf eine russische Wirklichkeit verweisen, die „der Westen nie verstehen wird“. Doch vielleicht hilft es ja gerade, beim Blick auf Russland die fantastische Brille aufzusetzen.

Wenn uns aktuelle Nachrichten aus Russland erreichen, muss ich oft an eine Bemerkung Viktor Jerofejews denken (ich glaube, sie fiel im Zusammenhang mit Rasputin): „Man kann mit guten Gründen behaupten, dass der Westen Russland nie verstehen wird.“ Ein Präsident, der sich, um sein Umweltbewusstsein zu dokumentieren, mit einem Schwarm Kraniche in die Lüfte schwingt, während er die Ressourcen seines Landes rücksichtslos ausbeuten lässt; eine Gruppe Punkmädchen, die für einen pöbelhaften Auftritt in einer Kirche zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt werden, während die Polizei für die Luxuswagen der russisch-orthodoxen Priesterschaft auf den verstopften Moskauer Straßen gerne mal eine Spur freimacht; und so weiter. Was bitte soll das alles? Und wer kann es uns erklären?

Nun könnte man die These aufstellen, dass wir es bei diesem riesigen, schon geografisch kaum zu fassenden Land per se mit einem unverständlichen, also gänzlich fantastischen Ort zu tun haben (und wir ergänzen Martin Malias berühmten Satz „So etwas wie Sozialismus gibt es nicht, und die Sowjetunion hat es gemacht“ mit: So etwas wie „gelenkte Demokratie“ gibt es nicht, und Russland macht es). Oder man nähert sich der Sache gleichsam andersherum: Wir können Russland nur verstehen, wenn wir es durch eine fantastische Brille betrachten. Genauer: durch die Brille der fantastischen Literatur.

Dafür spricht einiges, vor allem aber die Tatsache, dass die Russen selbst darin geübt sind, ihr Land durch die Brille der fantastischen Literatur zu betrachten und zu verstehen. Nicht unbedingt als Ausdruck einer besonderen kollektiven Identität – die Iren oder Isländer machen seit Jahrhunderten nichts anderes –, sondern weil es im längsten Teil des 20. Jahrhunderts gar keine andere Möglichkeit gab. Da jegliche Kritik an den bestehenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zuständen verboten und die „ernste“ Literatur dazu angehalten war, die Machthaber zu rühmen, waren satirische Nadelstiche und gesellschaftskritische Parabeln fast nur in der Fantastik möglich – denn die Bürokraten und Politiker, die sich so etwas wie Fantasie schon beruflich nicht leisten konnten, nahmen an, dass es sich dabei um kindisches Zeug mit Laserwaffen und Zauberern handelte.

Nun, zumindest für ihre literarische Ignoranz muss man ihnen dankbar sein: So nämlich war es möglich, dass in der UdSSR etwa die Bücher von Arkadi und Boris Strugatzki erscheinen konnten, auf den ersten Blick wilde Abenteuergeschichten in ferner Zukunft, die jedoch bei genauer Lektüre weitaus mehr Wahrheit über das Leben in der Sowjetgesellschaft ans Tageslicht brachten als alles andere, was sonst erscheinen durfte. (Ihr Roman „Die bewohnte Insel“ beispielsweise schildert einen Planeten, auf dem die Bevölkerung durch Strahlen in einen zombiehaften Zustand versetzt wird – ein Schelm, wer da nicht an die kommunistische Propaganda denkt.)

Natürlich gerieten auch die Texte der Strugatzkis in die Mühlen der Zensur, und manche Bücher warteten jahrelang auf ihre Veröffentlichung, aber schließlich wurden sie veröffentlicht. Und sie wurden gelesen – von Millionen von Menschen. Und selbst in der zensierten Form entfalteten sie ihre subversive Wirkung, wiesen sie doch immer wieder darauf hin, dass es nichts gibt – keinen Staat, keine Ideologie, keinen Urteilsspruch –, woran man nicht zweifeln sollte.

Heute, viele Jahre später, ist der Kontext, in dem die Strugatzkis schrieben, die Ära des Totalitarismus, Vergangenheit, doch das macht die Lektüre ihrer Bücher nicht weniger spannend, nicht weniger lehrreich. Und es macht die Rolle der fantastischen Literatur insgesamt nicht weniger wichtig. Im heutigen Russland gibt es zwar nichts mehr, was mit der Zensur in der Sowjetunion vergleichbar wäre, aber die Situation ist zweifellos immer noch, sagen wir, kompliziert. Und es ist immer noch notwendig, dass wir versuchen, zu verstehen, was dort vor sich geht.

Also setzen wir erneut die Brille der fantastischen Literatur auf. Und erkennen, dass die Helden in Sergej Lukianenkos Roman „Wächter der Nacht“ nicht nur gegen Hexer und Magier kämpfen, sondern auch gegen den Irrsinn eines nach 1990 entfesselten Kapitalismus, von dem sich Russland bis heute nicht erholt hat. Erkennen, dass Dmitry Glukhovsky in „Metro 2033“ nicht nur die Zukunft der russischen Gesellschaft akribisch durchdekliniert, sondern auch die Gegenwart und dabei zu ganz erstaunlichen Erkenntnissen kommt. Erkennen, dass sich die Soldaten in Andrei Levitskis und Aleksei Bobls „Tekhnotma“ nicht nur in der postapokalyptischen Schwarzmeersenke Gefechte liefern, sondern dass es im Kaukasus unserer Tage kaum anders zugeht.

Diese neuen Autoren – und viele mehr – sind die Erben der Strugatzkis. Sie schreiben mitreißende Abenteuergeschichten, aber wer ihre Bücher nur als Abenteuergeschichten liest, verpasst das Beste. Denn wie Tiefensonden horchen sie weit in die russische Gesellschaft hinein und suchen – ganz nach Puschkins Diktum, dass das Märchen eine Lüge ist, die eine nützliche Wahrheit enthält – nach Antworten auf die Frage, was es mit diesem Land und seinen Bewohnern auf sich hat. Dieses Land ist ein fantastischer Ort, zweifellos, aber manchmal heißt der fantastischste aller Orte ganz einfach: Wirklichkeit.

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