Von der Einheit zur Vielfalt – Bauen im Spätsozialismus

Die Fakultät für Architektur des Polytechnikums Minsk mit überhängenden Hörsalen (W.Anikin,I.Jesman). Weißrussland,1983. Foto: Pressebild.

Die Fakultät für Architektur des Polytechnikums Minsk mit überhängenden Hörsalen (W.Anikin,I.Jesman). Weißrussland,1983. Foto: Pressebild.

Sowjetische Architektur war immer politisch. Jeder in der UdSSR geplante Bau wurde vom Staat in Auftrag geben und Architekten anvertraut, die durch denselben ausgebildet worden waren und ausschließlich für ihn arbeiteten.

Die von den sowjetischen Baumeistern gewählten Formen waren stets von den jeweils vorherrschenden ideologischen Postulaten konditioniert. Wer hat nicht die Monotonie stereotyper Betonklötze in den Zentren sowjetischer Städte im Kopf?

Doch auch in der scheinbar monolithischen Sowjetunion konnten sich die Architekten nicht den existierenden Subtexten der Gesellschaft entziehen.

Frédéric Chaubin: „CCCP: Cosmic Communist Constructions Photographed". Taschen Verlag 2011

Am sichtbarsten war der Drang nach Individualität an der Peripherie des Landes, der sich in einer neuen und mitunter atemberaubenden Architektur ausdrückte. Bereits lange vor Perestroika und Glasnost zeigten die Bauten der späten 1970er- und vor allem der 1980er-Jahre Freiräume, die in der sowjetischen Baukunst bislang undenkbar waren. Dieser Epoche ist der Fotoband von Frédéric Chaubin gewidmet. In den fünf Themenbereichen Unterhaltung und Kultur, Wissenschaft und Technik, Sport und Jugend, Gesundheit und Erholung sowie Riten und Symbole dokumentiert er an insgesamt 90 Bauwerken die Formenvielfalt der letzten Architekturperiode der Sowjetunion. Diese prägte vor allem der Kontextualismus, dessen oberstes Postulat war, dass jedes Bauwerk seine Umgebung widerspiegeln müsse.

Das Haus des Sowjets von Kaliningrad mit seinem antropomorphen Profil enstand an der Stelle des alten Schlosses von Königsberg. Foto: Pressebild.


Fast schon subversiv unterhöhlte eine Architektur, die ein langfristiges historisches Erbe und regionale Diversität berücksichtigte, den leninistischen Einheitsgedanken und nahm quasi das Auseinanderbrechen der Sowjetunion vorweg.

Als Avantgarde gingen hierbei das Baltikum, die Kaukasusrepubliken und Zentralasien voran. Von skandinavischer Schlichtheit war beispielsweise die in den 1970er-Jahren im estnischen Valgeranna gebaute Villa Andropov geprägt. In Taschkent wiederum wurde das um dieselbe Zeit errichtete Leninmuseum mit islamischen Motiven versehen. Im georgischen Tiflis thronte schließlich der 1985 gebaute Zeremonienpalast gleich einer christlichen Kathedrale über dem Fluss Kura. Mitte der 1980er-Jahre erreichten die neuen architektonischen Freiräume selbst das sowjetische Strafsystem. Das unweit der finnischen Grenze gelegene Resozialisierungslager „Prometheus" zeichnete sich durch eine futuristische und zugleich naturbezogene Formensprache aus, die mit dem berüchtigten Gulag nichts mehr gemein hatte.

Zeremoniepalast in Tiflis (R.Dschorbenadse,W.Orbeladse), der einer Kathedrale gleicht, Georgien, 1985. Foto: Pressebild.

Der von den Architekten Mark Chidekel und Oleg Romanow projektierte – heute dem Verfall preisgegebene – Komplex ähnelt mit seinem Formenuniversum einer galaktischen Raumstation und steht damit für das kosmische Element der Bauwerke dieser Zeit, die Vorlage für zahlreiche Science-Fictions waren. Wie ein „UFO, das am Ufer der Wolga gestrandet ist" wirkte auch der Zirkus in Kasan von 1967, der radikal mit der neoklassizistischen Tradition und den von Stalin ererbten Renaissance-Kolonnaden brach.

Noch vor dem Ende ihres Staates zeigten die sowjetischen Architekten, dass sich – trotz aller ideologischen Vorgaben – das Individuelle auf Dauer nicht durch das Kollektiv ersetzen lässt. Bei der Lektüre des beeindruckenden Bandes bleibt ein Wermutstropfen zurück. Gerne hätte der Leser noch mehr Details erfahren.

Mathias Uhl, Jahrgang 1970, arbeitet seit Juli 2005 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Moskau. Er ist auf osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte spezialisiert.


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