Opposition wählt politische Führung

An den  Wahlen des Koordinierungs Rates der Opposition beteiligten sich insgesamt über 80 000 Personen. Foto: ITAR-TASS.

An den Wahlen des Koordinierungs Rates der Opposition beteiligten sich insgesamt über 80 000 Personen. Foto: ITAR-TASS.

Drei Tage stimmte die Opposition über die Zusammensetzung ihres Koordinierungsrates ab. Die Ergebnisse wurden jetzt bekannt gegeben.

Das Vorhaben, einen Koordinierungsrat zu gründen, entstand im Zuge der heftigen politischen Proteste, die seit Dezember vergangenen Jahres das politische Klima in Russland geprägt hatten. Der 45-köpfige Rat - für die Dauer eines Jahres gewählt - setzt sich aus 30 Aktivisten der allgemeinen bürgerlichen Liste und jeweils fünf Vertretern der linken Kräfte, der Nationalisten und Liberalen zusammen. An den drei Tage dauernden Wahlen beteiligten sich insgesamt über 80 000 Personen.

Probleme im Vorfeld


Beinahe hätten die Wahlen zum Koordinierungsrat abgesagt werden müssen. Hackerattacken hatten die für die Wahl eingerichtete Homepage über Stunden lahmgelegt. Am Samstag waren die Wahlen dadurch faktisch ausgesetzt, am Sonntag jedoch konnte das Zentrale Wahlkomitee seine Arbeit fortsetzen. Die Internetabstimmung wurde bis Montagabend verlängert. Den Organisatoren ist nicht bekannt, wer es geschafft hatte, auf die Server zuzugreifen und die Wahlen zu stören. Sie gehen davon aus, dass sich Regierungskräfte hinter den Hackern verbergen.

Auch der Wahlkampf drohte bereits zu scheitern. Ein Teil der Kandidaten kündigte an, im Falle ihres Scheiterns Einspruch einzulegen, das Zentrale

Wahlkomitee wollte einige Tausend Wählerstimmen annullieren, die mobilisiert wurden, um die Wahlen zu stören. Am Vorabend der Wahlen wurde außerdem bekannt, dass der Dumaabgeordnete Ilja Ponomarjow seine Kandidatur zurückzieht. In seinem LiveJournal-Blog erklärte er, die Opposition habe nicht plausibel machen können, dass sie in der Lage sei, das Land zu regieren. Er sei der Meinung, die Protestbewegung hätte ihre Substanz beweisen und Vorschläge zur Reform des Gesundheitswesens und des Bildungssystems erarbeiten müssen sowie Ideen einer alternativen Gesellschaftsordnung entwerfen sollen. Dieses aber habe sie versäumt.

Bisher keine Führungsfigur


Die Konstituierung einer Vertretungsstruktur, mit der man verhandeln kann, markiert einen Wendepunkt in der Entwicklung der Protestbewegung. Das besondere Merkmal der Kundgebungen der Opposition seit Dezember 2011 war das Fehlen einer Führungsfigur oder einer integrierenden politischen Kraft. Einerseits konnte daher die Regierung keinen Drahtzieher der „orangenen Gefahr" ausmachen und niemanden beschuldigen, einen politischen Umsturz zu planen. Andererseits wusste der Kreml nicht, mit wem er einen politischen Dialog hätte aufnehmen können und wer im Namen aller „aufgebrachten Russen" sprechen kann – oder zumindest für jene Tausende, die regelmäßig auf dem Bolotnaja-Platz zusammenkamen.

Stimmen zur Wahl: „Ziemlich viele Überraschungen"


Georgij Satarow, Politologe: „Ziemlich viele Überraschungen, wie auch bei normalen Wahlen. Zunächst gab es da eine Intrige, die Vermutung, dass Nawalny präsidiale Positionen vereinnahmt. Würden wir die üblichen Maßstäbe von Präsidentenwahlen anlegen, dann hätten wir es hier eindeutig mit einem zweiten Wahlgang zu tun. Im ersten Wahlgang konnte er eindeutig keine Mehrheit hinter sich bringen. Auf ihn entfiel nicht einmal die Hälfte der Stimmen. Es gibt Personen, denen alle prophezeiten, sie würden es unter die ersten drei oder fünf schaffen, die aber schließlich nur knapp gewählt wurden. Zum Beispiel Udalzow. Und da es sich hier um Kandidaten der allgemein bürgerlichen Liste handelt, sind die Ergebnisse recht interessant. Sie sagen viel über die ideologischen Einstellungen der Wähler aus."

Pawel Scheremet: „Ernstzunehmende Leute haben sich zwei Monate lang die Köpfe zerbrochen und sich Rhetoriken und Polemiken ins Gedächtnis gerufen, die in Russland schon lange aus dem Gebrauch gekommen sind. Eine glamouröse Blondine, ein oppositioneller Funktionär, eine Kämpferin für ein Stück Wald und ein wütender Nationalist, ein skandalumwitterter Schriftsteller und ein mediensüchtiger Blogger – 200 Kandidaten warben um die Gunst der virtuellen Wähler. Tausende verfolgten die Aktionen ihrer Idole. In diesem Land hat sich bereits ein öffentliches Fernsehen mit seinen Fernsehdebatten etabliert, wie wir das aus dem Ausland kennen."

Alexej Makarkin, Vize-Präsident des Zentrums für Polittechnologien: „Angesichts der offensichtlichen inhaltlichen und konzeptionellen Schwächen der Oppositionsbewegung, angesichts der Probleme bei der Umsetzung ihrer Ziele, ist die Wahlbeteiligung durchaus akzeptabel ausgefallen. Was die Handlungsfähigkeit dieses Gremiums betrifft, so wird viel davon abhängen, ob die Vertreter der verschiedenen politischen Organisationen, Kräften und Bewegungen zu den erforderlichen Kompromissen gelangen. Das dürfte sich als nicht ganz einfach erweisen, denn keine der in dem Rat vertretenen Organisationen verfügt über eine entscheidende Mehrheit."

Die Listenplätze im Detail

Die ersten fünf Positionen der allgemein bürgerlichen Liste sind wie folgt besetzt: Alexej Nawalny, Dmitrij Bykow, Garri Kasparow, Xenija Sobtschak und Ilja Jaschin. Außerdem gehören dieser größten Fraktion Jewgenij Tschirikow, der politische Führer der „Bewegung zum Schutz des Waldes von Chimki", der Dumaabgeordnete Dmitrij Gudkow und dessen Vater, der frühere Parlamentarier Gennadij Gudkow, der Führer der „Linken Front" Sergej Udalzow, der Blogger Rustem Adagamow und die Fernsehmoderatoren Tatjana Lasarewa und Michail Schaz an.

Von den linken Kräften wurden in den Koordinierungsrat gewählt: Alexej Gaskarow, Jekaterina Aitowa, Alexandr Nikolajew, Akim Paltschajew und der gegenwärtig inhaftierte Aktivist der „Linken Front" Leonid Raswosschajew. Die Liberalen sind vertreten durch Sergej Dawidis, Andrej Piwowarow, Anton Dolgich, Anna Karetnikowa und Petr Zarykow. Die Nationalisten sind durch Daniil Konstantinowitsch, Igor Artemow, Nikolaj Bondarik, Konstantin Krylow und Wladlen Kralin (Wladimir Tor) vertreten.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

Diese Webseite benutzt Cookies. Mehr Informationen finden Sie hier! Weiterlesen!

OK!